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Im Trend: literarische Wiederentdeckungen

Jochen Kürten31. Dezember 2015

Immer mehr deutsche Verlage lassen moderne Klassiker der Literatur neu übersetzen - oder gehen auf Spurensuche in ihren Archiven. So werden "alte" Romane auf einmal neu entdeckt. Wir stellen Ihnen 10 vor.

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Collage Bildergalerie Bücher (Fotos. diverse Verlage)

Henry James: Die Europäer (1878)

In zwei Monaten (28.2.2016) wird an den 100. Todestag des großen Henry James erinnert. Im Vorgriff dieses Datums bringen gleich mehrere Verlage seine Romane heraus, als Neuübersetzung, gründlich überarbeitet oder auch zum ersten Mal. "Die Europäer", einer seiner frühesten Romane, liegt jetzt, neu übertragen aus dem Englischen von Andrea Ott, in einer schönen Ausgabe für den deutschen Leser bereit.

Buchcover Die Europäer von Henry James (Foto: Manesse Verlag)
Bild: Manesse

Henry James, in New York geboren und in London gestorben, war ein Wanderer zwischen den Kontinenten. Gustav Seibt schreibt in seinem Nachwort, es gehe in dem Buch "um die Spannung zwischen Alter und Neuer Welt, den Kontrast der einfachen kolonialen Tochter Amerika zu ihrer komplizierten alten Mutter Europa". Dem kann man nur beipflichten - und ertappt sich bei dem Gedanken, dass das mit dem Alten und Neuen manchmal noch heute so ist. (Manesse Verlag, ISBN 9783717523888)

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren (1879)

Noch einmal Henry James. Der amerikanische Schriftsteller war nicht nur ein Meister des Romans, er beherrschte auch die kürzere Form meisterhaft. In dem Erzählungsband "Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren" sind sechs seiner schönsten Erzählungen versammelt. In der Titelgeschichte berichtet er von einem Mann, der knapp drei Jahrzehnte nach seinem ersten Florenz-Aufenthalt an die Stätte seiner großen Liebe zurückkehrt. Die Frau, in die er einst unsterblich verliebt war, ist schon lange tot. Und doch spielt sie in dem Text eine Hauptrolle. In Form eines Tagebuchs schildert James, wie es dem älteren Herren in der Toskana mit all den Erinnerungen ergeht, mit den Figuren aus der Vergangenheit und den Nachgeborenen. Eine moderne Geister-Geschichte: subtil, atmosphärisch dicht, und geheimnisvoll. Eine Zeitung kam zu dem Urteil: "Ein Leben ohne Henry James ist möglich, aber sinnlos." (Manesse, übersetzt von Friedhelm Rathjen, ISBN 9783717523062)

Buchcover Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren von Henry James (Foto: Manesse Verlag)
Bild: Manesse
Buchcover Über Bord von Rudyard Kipling (Foto: Edition Büchergilde)
Bild: Edition Büchergilde

Rudyard Kipling: Über Bord (1897)

Vor 150 Jahren geboren (am 30.12.1865) ist Rudyard Kipling heute vor allem als Verfasser der "Dschungelbücher" bekannt. Dass er aber auch noch andere großartige Romane geschrieben hat, beweisen zwei Neuausgaben. Seine Indien-Geschichte "Kim" wurde gerade neu übersetzt (und erschien jüngst beim Hanser-Verlag). Sein zweiter Roman "Über Bord" liegt jetzt in einer besonders schönen Ausgabe mit Zeichnungen und Seekarte vor. "Über Bord" erzählt von der harten Erziehung eines verwöhnten Millionärssöhnchens an Bord eines Fischtrawlers. Die Übersetzung von Gisbert Haefs aus dem Jahre 2007 setzt auf möglichst große Nähe zur Umgangssprache. Der in Indien geborene Brite Kipling, der später unter dem Ruf litt ein Imperialist zu sein, war der erste britische Literaturnobelpreisträger. Auch Henry James schätzte ihn sehr und war jahrelang sein literarischer Förderer und Freund. (Edition Büchergilde, ISBN 9783864060601)

Buchcover Das fahle Pferd von Boris Sawinkow (Foto: Galiani Verlag)
Bild: Galiani Verlag

Boris Sawinkow: Das fahle Pferd (1908)

Dieser russische Roman wird als Psychogramm eines Terroristen gedeutet, der auch viel über den Terror unserer Tage zu sagen hat. Sawinkow, Autor und Politiker sowie Experte in Theorie und Praxis des Bombenlegens, kennt sich aus in seinem Metier. Sein Roman eines Terroristen, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein Attentat auf den Gouverneur von Moskau plant und ausführt, gewährt zweifellos tiefe Einblicke in die Psyche eines Extremisten. Nicht aufgrund weltanschaulicher Ziele agiert der unter wechselnden Identitäten agierende Hauptcharakter, sondern weil ihn die Lust am Töten treibt. Die Tat wird zum Ziel an sich.

Doch Sawinkow stattet seine Figuren auch mit menschlichen Zügen aus. So macht sich der Held des Romans viele Gedanken und stellt seine Taten letztendlich sogar in Frage. Ein großartiges Buch, glasklar in seinen Dialogen, knapp und präzise formuliert. (Galiani, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Nitzberg, ein zweites Nachwort von Jörg Baberowski ordnet den Text politisch ein, ISBN 9783869711140)

Buchcover Bankrott von Pierre Bost (Foto: Dörlemann Verlag)
Bild: Dörlemann Verlag

Philip Bost: Bankrott (1928)

Ein Roman über eine beginnende Depression - oder, wie man heute sagen würde, ein Buch über ein Burn-Out-Syndrom. "Bankrott" ist aber auch ein scharfsinniger Wirtschafts-Roman und zugleich ein trauriger Liebes-Roman. Bost erzählt vom Leben und Leiden Brugnons, eines zu Beginn des Buches jungen Mannes und Erben eines Zuckerimperiums in Paris. Dass der Autor all die verschiedenen Motive so elegant zusammenfügt, dass das Interesse des Lesers am Schicksal Brugnons nicht nachlässt, zeigt die eindringliche Prosakunst dieses Schriftstellers. In der Zwischenkriegszeit gehörte Pierre Bost in Frankreich zu den wichtigsten Autoren. "Bankrott" erschien in Deutschland erstmals 1930, danach geriet der Autor hierzulande in Vergessenheit. (Dörlemann, aus dem Französischen von Rainer Moritz, ISBN 9783038200185)

Buchcover Die Eifersüchtigen von Sandor Marai (Foto: Piper Verlag)
Bild: PIPER

Sándor Márai: Die Eifersüchtigen (1937)

Der ungarische Autor Sándor Márai ist hauptverantwortlich für den Trend der Wiederentdeckung von Klassikern der Moderne. 1998 löste Márais Roman "Die Glut" ein kleines literarisches Beben aus. Es zeigte den deutschen Verlagen, dass sich auch mit älteren Romanen heutzutage viel Geld verdienen lässt. Seither gehören die wiederaufgelegten Bücher des Ungarn zum festen Bestandteil einer jeden literarischen Saison.

In diesem Herbst also "Die Eifersüchtigen": ein weit ausholender Familienroman, der uns die Dynastie der Garrens vorstellt. Das Oberhaupt der Familie liegt im Sterben, doch die herbeigeeilten Kinder erweisen sich alles andere als friedlich. "Die Eifersüchtigen" wird gern mit Thomas Manns "Die Buddenbrooks" verglichen, doch Budapest und die ungarische Provinz sind nicht Lübeck und Norddeutschland. Und so sollte man diesen Roman auch lesen: als einen der Höhepunkte der großen ungarischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. (Piper, neuübersetzt von Christina Kunze, ISBN 9783492055987)

Buchcover Zu zweit von Irene Nemirovsky (Foto: Knaus Verlag)
Bild: Knaus

Irène Némirovsky: Zu zweit (1938)

Auch von Irène Némirovsky ist zuletzt fast jedes Jahr ein Roman erschienen. Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren, floh mit ihren Eltern 1919 nach Frankreich und wurde dort zur erfolgreichen Autorin. 1942 wurde sie verhaftet und starb kurz darauf in Auschwitz. Die Geschichte der Widerentdeckung ihres Werkes gehört zu den wundersamsten literarischen Comebacks der Literaturgeschichte. Ihr wichtigster Roman "Suite française", mit dem die Némirovsky-Renaissance 2004 in Frankreich begann, kommt jetzt im Januar 2016 als Literaturverfilmung in die deutschen Kinos.

"Zu zweit“ aus dem Jahre 1938 ist einer für die Autorin typischen Texte, in der sie psychologisch vielstimmig von Menschen und Schicksalen ihres Milieus erzählt: zumeist wohlbetuchten Mitgliedern des Pariser Bürgertums. Melancholisch, illusionslos und manchmal tieftraurig, erzählt sie hier vom Liebesleid eines Paares. Némirovsky war mit ihren Büchern in zwei Jahrhunderten verwurzelt: Charaktere und Motive entlieh sie dem 19., doch in den Details und bei der kompromisslosen Schilderung von Leid und Unglück gehörte diese Autorin in das moderne 20. Jahrhundert. (Knaus, aus dem Französischen von Susanne Röckel, ISBN 9783813505870)

Buchcover Ozean von James Hanley (Foto: Dörlemann Verlag)
Bild: Dörlemann Verlag

James Hanley: Ozean (1941)

Romane über das Meer sind seit Jahrhunderten populär. In sämtlichen Varianten haben sich Schriftsteller mit dem Thema "Meer & Mensch" beschäftigt: Texte über Seefahrer, über Gestrandete auf einsamen Inseln, über Meutereien, Schiffbrüchige und die Jagd nach diversen Meeresungeheuern, all das hat die Literaturgeschichte bereichert. James Hanleys "Ozean" ist ein klassischer Roman über den Überlebenskampf von fünf Männern in einem winzigen Boot.

Nach einem U-Boot-Angriff während des Zweiten Weltkrieges versammeln sich die Überlebenden auf dem kleinen Kahn. Hanley beschreibt, - mit den klassischen Zutaten - was das mit den Menschen macht: Streit und Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Wahnsinn greifen um sich. Dazwischen mischen sich Erinnerungen an das frühere Leben und leise Hoffnungsfünkchen. "Ozean" ist literarische Seemannskost für Fans der maritimen Literatur. (Edition Kategatt/Dörlemann, neuübersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Hansen, ISBN 9783038200232)

Buchcover Tod in Hollywood von Evelyn Waugh (Foto: Diogenes Verlag)
Bild: Diogenes Verlag

Evelyn Waugh: Tod in Hollywood (1948)

Wie schon Henry James erzählt uns auch Oxford-Absolvent Evelyn Waugh in seinem Buch "Tod in Hollywood" von der Begegnung zwischen alter und neuer Welt. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der britische Exzentriker Waugh bei einem USA-Besuch nach Hollywood eingeladen. Man bot ihm eine Verfilmung seines Jahrhundertromans "Wiedersehen in Brideshead" an. Beide Seiten wurden sich zwar nicht einig, doch als Ergebnis der Reise lag wenig später der schmale Roman "Tod in Hollywood" vor.

In dem Buch ist folgender Dialog zu lesen: "'Haben Sie mal Henry James gelesen, Mr.Schultz?' - 'Ich habe keine Zeit zum Lesen, das wissen Sie doch.' - 'Sie brauchen nicht viel von ihm zu lesen. Alle seine Geschichten drehen sich um das gleiche Thema - die Ahnungslosigkeit der Amerikaner und die Erfahrungen der Europäer.'" Wer das Werk des großen Satirikers und Ironikers Arthur Evelyn Waugh kennt, der weiß, wie man diesen Dialog einzuordnen hat. (Diogenes, neuübersetzt von Andrea Ott, ISBN 9783257069471)

Buchcover Adieu Paris von Daniel Anselme (Foto: Arche Verlag)
Bild: ARCHE

Daniel Anselme: Adieu Paris (1957)

Die jüngste Wiederentdeckung des zurückliegenden Jahres 2015: Als vergessener Klassiker der französischen Nachkriegsliteratur wird "Adieu Paris" von Daniel Anselme gefeiert. Drei Männer sind auf Heimaturlaub in Frankreich. Lachaume, Lasteyrie und Valette verbringen ein paar Tage in Paris, gerade zurückgekehrt aus Algerien, wo die Franzosen einen aussichtslosen Kampf um eine verlorene Kolonie ausfechten.

In den Pariser Cafés und Bars, zu Hause und bei Freunden diskutieren sie und vergnügen sich, und sie sprechen über ihre Ängste und Zweifel, über Politik und Ideologie. Am Ende müssen alle drei wieder zurück nach Nordafrika. Anselme hat einen kurzen Roman über diese Zwischenzeit geschrieben, traurig und melancholisch, aber auch voller Wut und Verzweiflung. (Arche, neuübersetzt und mit einem Nachwort von Julia Schoch, ISBN 9783716027196)