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Literatur

Im Unruhestand: Enzensberger wird 90

Verena Greb
10. November 2019

Hans Magnus Enzensberger gilt als intellektueller Tausendsassa: Er ist Schriftsteller, Kulturkritiker, Übersetzer und Verleger. Bekannt geworden in den 60er Jahren, publiziert er noch immer - auch unter fremden Namen.

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Hans Magnus Enzensberger
Bild: picture-alliance/dpa

Hans Magnus Enzensberger ist leidenschaftlicher Raucher. Das hat er mit Ex-Kanzler Helmut Schmidt gemeinsam. Vor allem aber ist er einer der wichtigsten Intellektuellen in Deutschland - bis heute. Seit über 65 Jahren versorgt er die internationale Literaturwelt mit Nachdenklichem und poetischen Spitzfindigkeiten aus deutschen Landen.

Geboren wird er am 11. November 1929 in Kaufbeuren im Allgäu, als erster von vier Söhnen eines erfindungsreichen Fernmeldetechnikers und einer Erzieherin. In der fränkischen Stadt Nürnberg wächst er auf. Schon als Junge versucht er sich an literarischen Fingerübungen. Die machen ihm mehr Spaß als der militärische Drill der Hitlerjugend, aus der er hinausfliegt.

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Der junge Wilde der deutschen Literatur: Hans Magnus Enzensberger

Als Fünfzehnjähriger wird er 1944 zum Volkssturm eingezogen, kann aber kurz vor Kriegsende desertieren. "Ich hatte Glück mit meinen Eltern. Die waren zwar keine Widerstandskämpfer, aber eben auch keine Nazis. Damit hatte ich von Anfang an einen anderen Blick auf die sogenannte NS-Volksgemeinschaft", erzählt er rückblickend.

1949 stürzt sich Hans Magnus Enzensberger mit Feuereifer ins Studium der Literaturwissenschaften, büffelt Sprachen und promoviert 1955 zum Doktor der Philosophie. Nebenbei veröffentlicht er erste Texte und wird kurz darauf als Mitglied in die "Gruppe 47" aufgenommen. Ab 1947 kamen die Teilnehmer des legendären Schriftsteller-Treffens zwanzig Jahre lang zusammen, um die deutsche Literatur zu erneuern. Zeugnis der Debatten jener Zeit liefert ein erst 2018 veröffentlichter Briefwechsel von Enzensberger mit der Lyrikerin Ingeborg Bachmann, die 1953 für Gedichte aus "Die gestundete Zeit" den "Preis der Gruppe 47" erhielt.

Hans Magnus Enzensberger mit Günter Grass und Peter Rühmkorf (v. l.) trafen sich in Lübeck erstmals nach 38 Jahren zu einer gemeinsamen Lesung
Veteranen der berühmten "Gruppe 47": Hans Magnus Enzensberger (l.), Günter Grass und Peter Rühmkorf (r.)Bild: picture-alliance/dpa

Literarischer Weltenbummler

Das Nachkriegs-Deutschland ist Enzensberger bald zu eng. Seine Sturm- und Drangjahre treiben ihn in die Welt. Ausgiebige Reisen in die USA, nach Mexiko, Norwegen und Italien verschaffen ihm die Internationalität, die ihm Zeit seines Lebens wichtig ist. 1960 wird er Lektor beim renommierten Suhrkamp-Verlag. Und veröffentlicht seine ersten vielbeachteten Lyrikbände. 1965 gründet er die Kulturzeitschrift "Kursbuch" - Pflichtlektüre und Meinungsforum für intellektuelle Kreise und revolutionäre Studenten in den wilden 1968er Jahren. Enzensberger mischt sich wortstark und meinungsbildend in die politischen Debatten dieser Zeit ein. Die Freude an virtuosen Wort-Gefechten hat er sich bis heute bewahrt.

Hans Magnus Enzensberger beim Kongress "Notstand der Demokratie"
"Notstand der Demokratie" - auf einem Studentenkongress 1966 in Frankfurt hält Enzensberger (rechts im Bild) eine politische RedeBild: picture-alliance/dpa

Gedichte aus dieser Zeit lesen sich wie Stationen deutscher Kultur-Geschichte. Sein erster Lyrikband ("Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer") erregt 1957 großes Aufsehen. Wie viele der politisch engagierten Schriftsteller der frühen Bundesrepublik ist der junge Enzensberger angetreten, um die Schwere der existenziellen Nachkriegs-Lyrik zu zerschlagen. Seine Antwort: leichte ironische Poesie und pointierte Titel wie "Rabattmarken", "Musterland/Mördergrube" oder "Es geht aufwärts, aber nicht vorwärts".

Die "Andere Bibliothek"

Seinen Themenfeldern nähert sich der Schriftsteller generell kulturkritisch - mit "skeptischer Souveränität", wie er es einmal nicht gerade bescheiden formulierte. 1963 bekommt er - auch für diese Haltung - den Georg-Büchner-Preis. Es folgen weitere renommierte Auszeichnungen, darunter Heinrich-Böll-Preis, Deutscher Kritikerpreis und Ludwig-Börne-Preis. 2015 erhält Enzensberger mit dem damals neu ins Leben gerufenen Frank-Schirrmacher-Preis seine vorläufig letzte Auszeichnung. Dieser Preis für "herausragende Leistungen zum Verständnis unseres Zeitgeschehens" ist eine Hommage an den früh verstorbenen Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Frank Schirrmacher.

Nach Veröffentlichung seines einzigen Romans ("Der kurze Sommer der Anarchie") lässt sich Enzensberger 1979 als freier Schriftsteller in München nieder. 1980 stürzt er sich zusammen mit einem Freund, dem chilenischen Schriftsteller Gaston Salvatore, in ein verlegerisches Abenteuer. Die ambitionierte Literatur-Zeitschrift "TransAtlantik" überlebt aber nur zwei Jahre.

Buchcover: Enzensberger - Die Geschichte der Wolken
Buchtitel einer seiner liebsten Gedichtsammlungen

Mit dem Buch-Künstler Franz Greno gründet Enzensberger 1985 im Eichborn-Verlag die Buchreihe "Die Andere Bibliothek" - seine Lieblingstitel der Weltliteratur. Heute zählen diese Bände zu den bibliophilen Kostbarkeiten. Mit verlegerischem Spürsinn für Talente bringt er erstmals literarische Reportagen auf den deutschen Buchmarkt. Der polnische Autor und Journalist Ryszard Kapuściński gehört zu seinen Entdeckungen. Aber auch die Karrieren von renommierten Schriftstellern und Lyrikern wie Raoul Schrott, Irene Dische, Christoph Ransmayr und W.G. Sebald gehen auf sein Konto.

Wasserzeichen der Poesie

Nach längerer Produktionspause meldet sich Enzensberger 1991 als Lyriker zurück - mit dem Gedichtband "Zukunftsmusik". Als Essayist mischt er sich auch weiterhin in aktuelle Debatten ein, nimmt Stellung zum Irakkrieg, zu Genforschung oder umstrittenen Intelligenztests. Sein Text "Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idioten-Führer" hat 2007 einen öffentlichen Diskurs quer durch alle Feuilletons zur Folge. 2008 kehrt er zu seinen Wurzeln zurück: mit federleichten Liebesgedichten. "Das Wasserzeichen der Poesie" wird selbst zu einem Klassiker der Weltliteratur. Am liebsten schreibe er "Geschichten mit Wolken", merkt der Dichter dazu an. 

Mit "Tumult" veröffentlicht er 2014 dann seinen ersten Text mit leicht autobiographischen Zügen, wie er in einem Interview mit dem Spiegel erklärte. "Bekenntnisse sind nicht meine starke Seite. Es liegt mir fern, meine Seelenlandschaft vor der Öffentlichkeit auszubreiten." Das in "Tumult" begonnene Selbstgespräch des 85-Jährigen mit seinem jungen Alter Ego führt er in einem 2018 publizierten autobiographischen Fotoband fort. Während der erste Band die Jahre 1967 bis 1970 fokussiert, greift "Eine Handvoll Anekdoten" (2018) weiter zurück. Im Dialog mit "M.", dem jungen Ich, geht es um dessen Kindheit und (Vor-)Kriegserlebnisse. Nach Dafürhalten der Süddeutschen Zeitung bleibt Enzensberger trotz der weiteren persönlichen Einblicke darin seinem Credo treu, "sich nicht in die Karten blicken zu lassen."

Hans Magnus Enzensberger bei einer Veranstaltung in Münster 2017
Noch im hohen Alter auf Lesungen: Hans Magnus EnzensbergerBild: imago images/Rüdiger Wölk

Riesiger Werkumfang    

Zum Prinzip der Tarnung passt, dass Enzensberger nicht nur unter seinem eigenen, sondern vieles auch unter fingierten Namen veröffentlicht hat. Sein bekanntestes Pseudonym ist das des Andreas Thalmayr, unter dem er noch 2018 eine kurzweilige Handreichung für angehende Autoren ("Schreiben für ewige Anfänger") und 2019 den Prosaband "Louisiana Story" veröffentlichte.

Zwei der ihm zugewiesenen Pseudonyme sind sogar weiblich: Elisabeth Ambras und Linda Quilt. Erstere scheint ebenfalls noch literarisch aktiv: 2019 erschien von ihr "Fremde Geheimnisse". Das bereits so umfängliche Werk des Hans Magnus Enzensberger umfasst damit also noch einige Titel mehr, die nicht bei Suhrkamp, sondern im Hanser Verlag oder bei Cupido Books verlegt worden sind. Und eventuell muss seine Bibliographie irgendwann um weitere Titel ergänzt werden. Denn wer weiß schon, wie viele andere Pseudonyme Enzensberger noch nutzt oder genutzt hat, die ihm bisher nicht zugeordnet werden konnten? Mit Tarnnamen ist es bekanntlich so eine Sache.

Der nach wie vor Vielschreibende, den die Wochenzeitung "Die Zeit" einen "fröhlichen Skeptiker und realistischen Utopisten" nennt, feiert nun seinen 90. Geburtstag. Wir gratulieren dazu!