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Im Verborgenen

Nastassja Steudel29. März 2014

Geschätzt bis zu 400.000 Menschen leben in Deutschland ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Für die Betroffenen bedeutet das ein Leben in Angst, ohne Rechte und ohne eine geregelte medizinische Versorgung.

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Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Foto: David Ebener/dpa))
Bild: picture-alliance/dpa

Wenn Maria (Name von der Redaktion geändert) mit der Bahn fuhr, hatte sie immer einen gültigen Fahrschein dabei. Sie wäre auch nie bei Rot über die Ampel gegangen, selbst wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Bei der Arbeit war sie sehr gewissenhaft: 12 Stunden pro Tag schrubbte sie auf den Knien unzählige Küchenböden, putzte Bade- und Wohnzimmer. Maria war nie krank und immer pünktlich, obwohl sie kaum von ihrem Lohn leben konnte.

15 Jahre ging das gut bis zu diesem Tag im Sommer 2009. Die Ecuadorianerin hatte es eilig. Deswegen verzichtete sie auf ihren üblichen Weg, der zwar mehr Zeit kostete, aber sicherer war. An diesem Tag im Sommer ging sie durch den Bahnhof. Maria geriet in eine verdachtsunabhängige Personen-Kontrolle. Die Polizisten fragten nach Papieren, doch Maria konnte keine vorweisen, weil sie nie welche besessen hatte. 15 Jahre war das in ihrer neuen Heimat Deutschland gut gegangen.

Abschiebung nach 15 Jahren in Deutschland

Weil es kurz vor den Ferien war, ließ man ihre Tochter noch das 6. Schuljahr beenden. Ohne sie wäre Maria noch am selben Tag in Abschiebehaft gelandet. Ihre Tochter war in Deutschland geboren. Vom Vater, der auch ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland lebte, hatte sich Maria längst getrennt. Ecuador, das Geburtsland ihrer Mutter, kannte die Tochter nur aus dem Atlas. Das Mädchen sprach nur gebrochen Spanisch.

Vor der Abschiebung verabschiedete sich Maria noch bei Sigrid Becker-Wirth. "Das war schrecklich", sagt die 61-Jährige, während sie die Geschichte erzählt. Sie hatte Maria und deren Tochter oft geholfen, wenn sie krank waren.

Sigrid Becker-Wirth und Ulrich Kortmann mit MediNetz-Patientin - (Foto: Nastasja Steudel/DW)
Ulrich Kortmann und Sigrid Becker-Wirth: "Die medizinische Nicht-Versorgung ist ein politischer Skandal"Bild: DW/N.Steudel

Sigrid Becker-Wirth ist Kopf und Herz des Vereins MediNetzBonn. Zusammen mit Ulrich Kortmann und zehn weiteren Mitstreitern vermittelt sie Flüchtlinge, die keinen legalen Status in Deutschland haben, an hilfsbereite Ärzte. Diese behandeln unbürokratisch und vor allem kostenlos. 2003 wurde die Initiative mit dem Ziel gegründet, bald wieder überflüssig zu sein. Doch politisch habe sich seitdem überhaupt nichts bewegt, sagt die ehemalige Lehrerin Becker-Wirth.

Inzwischen besteht ihr Netzwerk aus mehr als 80 Ärzten unterschiedlichster Fachrichtungen in Bonn und Umgebung. Der Verein ist unabhängig, finanziert sich über Spenden. Über Zahlen will Becker-Wirth nicht sprechen. Nur so viel gibt sie preis: 2013 gab "MediNetzBonn" knapp 43.000 Euro für medizinische Behandlungen aus und stand danach nicht in den roten Zahlen.

Das Misstrauen ist groß - Vertrauen kann verhängnisvoll sein

Jeden Montag können sich die "Papierlosen" zwischen 17.30 und 19 Uhr bei ihr in einem unscheinbaren Haus in der Bonner Nordstadt beraten lassen. Etwa 4000 sollen in der Stadt und Umgebung leben. Einige begrüßen Becker-Wirth überschwänglich, wenn sie die Tür zu ihrem winzigen Sprechzimmer öffnet und den nächsten hereinbittet. Andere treten ängstlich ein und nehmen mit gesenktem Blick zunächst auf einem der brauen Stühle im Flur Platz.

Das improvisierte Wartezimmer füllt sich nach und nach. Drei Philippinerinnen schnattern leise durcheinander. Neben ihnen liest ein Mann aus Peru seinem Sohn auf Deutsch aus einem Märchenbuch vor. Ein Paar aus dem Kosovo wartet mit einem dicken Packen Röntgen-Bilder unterm Arm. Kurz vor acht wird noch ein Syrer kommen. Über seine Geschichte sprechen möchte hier niemand öffentlich. Ein Detail zu viel - so ihre Angst - könnte sie verraten und die mühsam aufgebaute Existenz vernichten. Sigrid Becker-Wirth hat sich das Vertrauen der Menschen hart erarbeitet.

Klingelschild der medizinischen Flüchtlingshilfe MediNetz Bonn (Foto: Nastasja Steudel/DW)
Sitz in der Bonner Nordstadt: Vier bis 15 Flüchtlinge klingeln pro Woche hierBild: DW/N.Steudel

Zwischen vier und 15 Flüchtlinge kommen pro Sprechstunde zu ihr. Neben eher einfacheren Krankheiten wie Grippe, Angina oder Gallenbeschwerden kommen die Menschen aber auch mit schweren Erkrankungen wie Tumoren oder Krebs zu ihr. Aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes im Krankheitsfall, und weil sie nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen, kommen viele erst, wenn es schon zu spät ist.

Im Schattendasein wuchern die Krankheiten

"Eine Frau kam mit Brustkrebs als man schon Veränderungen sah", erzählt Becker-Wirth. Da könne man sich das Stadium ja schon denken. Eine andere Patientin kam mit einer Tuberkulose, einer hoch-ansteckenden Krankheit. Dass die behandelt wird, daran müsse doch auch der Staat interessiert sein, sagt Becker-Wirth.

MediNetz-Wartezimmer (Foto: Nastasja Steudel/DW)
Der Flur als improvisiertes Wartezimmer für Patienten mit Krankheiten von Angina bis KrebsBild: DW/N.Steudel

Der ist auch bereit zu helfen, allerdings nur zu seinen Regeln. Über das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz können Menschen, die ohne Papiere in Deutschland leben, bestimmte Dinge in Anspruch nehmen. Allerdings nur bei sehr schweren Erkrankungen und nur, wenn sie ihren Aufenthaltsstatus offen legen. Dann kann man auch eine Duldung bekommen, die aber nach der Genesung wieder aufgehoben wird.

Weil MediNetzBonn sehr teure Behandlungen wie Chemotherapien nicht bezahlen kann, muss Sigrid Becker-Wirth solche Duldungen manchmal organisieren. Gerne macht sie das aber nicht. Unter der ständigen Angst entdeckt zu werden, nicht zu wissen, wie man den nächsten Monat finanziell schaffen soll, entwickeln viele der Flüchtlinge auch psychosomatische Krankheiten oder eine posttraumatische Belastungsstörung. In letzterem Fall können Becker-Wirth und ihre Mitstreiter auch eine Duldung erwirken.

Was aus Maria und ihrer Tochter geworden ist, weiß Becker-Wirth nicht. Sie kann nur hoffen, dass es ihnen gut geht und dass sich vor allem das Mädchen gut in dem fremden Land einleben konnte. Wenn sie heute solche Fälle hat, versucht sie, über die Härtefall-Kommission eine Legalisierung zu erreichen. "Kinder, die in Deutschland geboren sind und hier Freunde haben, sind ja praktisch Inländer", sagt sie.

Nach mehr als zehn Jahren Vereinsarbeit bei MediNetzBonn hat Sigrid Becker-Wirth alles über das Ausländerrecht gelernt. Gerade macht sie sich für die Einführung eines anonymisierten Krankenscheins stark, damit auch die Papierlosen in die Regelversorgung integriert werden. "Denn das, was wir hier machen, ist eine Parallel-Versorgung."