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Gewalt breitet sich aus

Matthias Sailer, Kairo17. August 2013

Ägypten wird immer instabiler: In weiten Teilen Kairos kam es nach dem Freitagsgebet wieder zu Gewalt. Polizei und Militär schossen mit scharfer Munition auf demonstrierende Islamisten. Doch die geben nicht auf.

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Panzer vor dem Tahriplatz (Foto: DW/Matthias Sailer)
Bild: DW/M. Sailer

Dutzende Panzer haben den Tahrir-Platz abgeriegelt. Das neue Militär-Regime will damit wohl verhindern, dass demonstrierende Islamisten den symbolischen Platz im Herzen von Kairo besetzen könnten. Denn die Mursi-Anhänger hatten 28 Märsche angekündigt, die sich nach dem Freitagsgebet alle am drei Kilometer entfernten Ramses-Platz treffen sollten.

Und tatsächlich haben sich dort nach dem Gebet über zehntausend Menschen eingefunden. "Islamisch, islamisch", schreien sie laut und "das ist der Ärger der Muslime, sie haben die Menschen verbrannt". Es ist eine Anspielung auf das Massaker von Raba-al-Adawija, bei dem hunderte Menschen, vor allem Islamisten, getötet wurden. Viele von ihnen verbrannten.

In den Stimmen der Demonstranten sind Zorn und absolute Entschlossenheit zu hören. Adel Badri, ein etwa 50-jähriger Fischhändler, sitzt auf einer nahegelegenen Grünfläche. Er war vor der Räumung täglich in Raba: "Einer meiner engsten Freunde wurde dort ermordet. Sein toter Körper ist verbrannt. Ich stamme aus einem Dorf in der Provinz Monofeia und aus jedem der umliegenden Dörfer sind mindestens zwei Menschen getötet worden."

Das Feldlazarett in einer nahegelegenen Moschee (Foto: DW/Matthias Sailer)
Das Feldlazarett in einer nahegelegenen MoscheeBild: DW/M. Sailer

Bereit zu sterben

Es war vorhersehbar: das Raba-Massaker hat bei den Islamisten eine ungeheure Wut erzeugt. Viele von ihnen sind bereit, als "Märtyrer" zu sterben. "Mein Blut und meine Seele opfere ich für den Islam", ruft einer. Der Kampf gegen Polizei und Militär ist in ihren Augen ein Kampf für den Islam. Wochen- und monatelange Verherrlichung des Märtyrertums durch ihre Führung hat ihnen echten Todesmut verliehen.

Inzwischen wollen sie nicht nur die Rückkehr ihres Präsidenten: An die Polizei und das Militär gerichtet rufen sie: "Wir werden ihnen echten Ärger zeigen und Manieren beibringen!". Momen, ein Demonstrant, fügt hinzu: "Diese Leute sind Killer, sie haben geputscht und wollen uns nicht wählen lassen. Sie wollen uns immer als Menschen zweiter Klasse halten, während sie die erste Klasse sind. Aber das werden wir nicht zulassen, auch wenn wir dabei alle sterben."

Moscheen als Feldlazarette

Kurz darauf wird es laut: Demonstranten schlagen auf das Metallgeländer der nahegelegenen Stadtautobahn, an deren anderem Ende die Sicherheitskräfte Position bezogen haben. Schüsse fallen in schneller Abfolge. Die Menschen rennen aus Furcht in die entgegengesetzte Richtung, die ganze Menge gerät in Bewegung.

Anders als bei vorangegangenen Protesten werden diesmal kaum Tränengasgeschosse abgefeuert. Stattdessen fallen immer wieder Schüsse und nach wenigen Minuten rasen die ersten Motorräder und Pick-Ups mit aufgeladenen Verwundeten zu einer nahegelegenen Moschee, die zu einem Feldlazarett umfunktioniert wurde. Ein Mann mit verbundenem Arm läuft in Richtung der Kämpfe und ruft mit zitternder Stimme: "Ich wurde in Rabaa verwundet. Jetzt muss man mir erlauben, als Märtyrer zu sterben."

Viele der Demonstranten waren auch in den geräumten Protestcamps (Foto: DW/Matthias Sailer)
Viele der Demonstranten waren auch in den geräumten ProtestcampsBild: DW/M. Sailer

Im Hintergrund ruft der Imam durch den Moscheelautsprecher, dass Ärzte und Transportwagen benötigt werden und Tote in den ersten Stock getragen werden sollen. Im Inneren der Moschee liegen Verwundete auf dem grünen Gebetsteppich, Ärzte mit blutverschmierten weißen Arztkitteln rennen durch den Raum oder behandeln Patienten.

Überall liegt gebrauchtes Verbandsmaterial auf dem Boden. Man sieht vor allem Verletzungen durch Schrotmunition. Vor dem Eingang sagt Adel Badri: "Verteidigungsminister Al-Asisi möchte einen Bürgerkrieg in Ägypten heraufbeschwören, damit er an der Macht bleiben kann. Die haben auch die Kirchen niedergebrannt, damit sie es den Islamisten in die Schuhe schieben können", behauptet er.

Demonstranten errichten Barrikaden (Foto: DW/Matthias Sailer)
Demonstranten errichten BarrikadenBild: DW/M. Sailer

Gewalteskalation war vorherzusehen

Was Al-Asisi mit seinem brutalen Vorgehen tatsächlich bezweckt, ist schwer zu sagen. Doch dass jetzt im ganzen Land die Gewalt eskaliert, war ohne weiteres vorhersehbar. Es fällt daher schwer, zu glauben, dass diese Eskalation von ihm nicht gewollt ist. Und die Gewalt breitet sich an diesem Tag in fast allen Stadtteilen Kairos aus. An der S-Bahnstation "Ghamra" wirft ein Mob von vermutlich dafür bezahlten armen Jugendlichen Steine und Feuerwerkskörper von unten auf eine Brücke. Die Passanten fliehen in Panik.

Einen Straßenzug weiter greifen andere Jugendliche einen im traditionellen weißen islamischen Gewand gekleideten Mann an. Sie zerren ihn in eine Seitenstraße und schlagen ihn, weil sie ihn für einen Islamisten halten. Auch in vielen weiteren Stadteilen kommt es zu blutigen Kämpfen. Im Bezirk Garden City sind Panzer aufgefahren: Immer wieder sind laute "Gott ist groß"-Rufe zu hören. Militär und Polizei gehen auch hier mit scharfer Munition gegen demonstrierende Islamisten vor. In den dortigen Straßen nahe dem Nil fallen über Stunden hinweg Schüsse.