Für das wirkliche Leben lernen
4. Mai 2012Eine kleine Baumschule, ein Garten mit 300 verschiedenen Heilkräutern, ein großes Gemüsebeet hinter den Schulen – Wer die brasilianische Gemeinde Comodoro besucht, sieht sofort, dass die Kinder in dieser dünn besiedelten, tropischen Region anders lernen. "Die Schule beschränkt sich nicht mehr wie früher auf ihre vier Wände", sagt Maria José Fernandes, Lehrerin der Schule Bom Jardim. Statt Mathematik, Biologie, Geografie und Physik nur an Tischen und Bänken zu pauken, gehen die Schüler in die Natur. Sie lernen, die Bodenbeschaffenheit zu analysieren, die Wiederaufforstung brachliegender Flächen zu planen und Obst- oder Gemüse anzubauen.
Mit dem Projekt "Educação do Campo" (Bildung auf dem Land) soll die einfache Bevölkerung in der Region nahe der bolivianischen Grenze im Bundesstaat Matto Grosso gestärkt werden. Die lokalen Probleme der Landarbeiter-Familie Comodoros sind zu einem wichtigen Bestandteil der Bildungskonzepte geworden. Die Schüler beschäftigen sich in interdisziplinären Projekten fächerübergreifend mit Bodenerosion, ausgetrockneten Quellen und Selbstversorgung. Den klassischen Schulunterricht in 45-Minuten-Einheiten gibt es hier nicht mehr. Statt dessen unterrichten die Lehrer in flexiblen Lerneinheiten.
Schule als Spiegel der Lebenswirklichkeit
Seit Mitte 2009 haben die Schulen der Gemeinde Comodoro ihr Bildungskonzept mit Hilfe von pädagogischen Beratern so umgestellt, dass die Lebenswirklichkeit der Schüler und ihrer Familien widerspiegelt. "Die Schüler haben wieder Spaß daran, zur Schule zu gehen. Das motiviert auch die Eltern, sich für die Schule zu engagieren", berichtet Geraldo Magério de Paula, der an der Schule Carcio Permá unterrichtet. Die Erfahrungen der Erwachsenen werden genutzt, ihre Mitarbeit ist gefragt. Was die Schüler in den Projekten lernen, kommt schließlich auch ihnen zugute. Es hilft der ganzen Gemeinde, die Umwelt und die sozialen Bedingungen, in denen sie leben, besser zu verstehen und aus eigener Kraft zu verändern.
In der Region weit ab von den großen urbanen Zentren Brasiliens gibt es einige Großgrundbesitzer mit Rinderfarmen und Sojaanbau auf gerodeten Flächen von nicht selten 400.000 Hektar. Daneben bewirtschaften Kleinbauern und ehemals Landlose ihre eigenen Felder, die sie durch die Bodenreform in Parzellen von 10-20 Hektar Land zugesprochen bekommen haben. Um besser überleben zu können, schließen sie sich in Kleinbauer-Kooperativen, den so genannten "glebas" zusammen, und versuchen, das Land urbar zu machen.
Schüler identifizieren sich mit dem Landleben
Bodenerosion und versiegte Quellen, sichtbare Folgen jahrzehntelanger Monokultur einer extensiven Landwirtschaft, machen das Bewirtschaften der Böden jedoch schwer. Der Erhalt von natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser und Biodiversität sind Themen, die die Kleinbauern beschäftigen. Seit den 60er Jahren haben Bürgerbewegungen, die von Landlosen, Bauern, Gewerkschaften, linksgerichteten Parteien und Vertretern der Befreiungstheologie angeführt worden sind, diese Entwicklung auf dem Land kritisiert. Sie fordern bis heute weit reichende Boden-Reformen sowie die Verbesserungen der sozialen und ökologischen Lebensbedingungen der Landbevölkerung.
Aus dieser Bewegung ist das Bildungskonzept "Educação do Campo" hervorgegangen. Es fußt auf Paulo Freires Pädagogik der Befreiung und wird seit 2002 vom Bildungsministerium unterstützt. "Wir haben festgestellt, dass die Schüler durch diese Projekte mehr in ihre Realität verankert werden. Sie beginnen, sich mit dem Leben auf dem Land zu identifizieren. Ihre Lernleistung ist viel besser als früher", erzählt Joaquim Manoel da Silva, Leiter der öffentlichen Schule Darcy Ribeiro.
Nachhaltiges Bildungskonzept verbessert Lebensqualität
Lehrer Geraldo kann dies nur bestätigen. Stolz erzählt er, dass seine Schule heute zu den besten des Landkreises gehört, "was der Projektarbeit geschuldet ist", wie er meint. Alle Schüler haben die Prüfungen zu weiterführenden Berufsschulen geschafft. "Wir brauchen uns nicht vor dem Vergleich mit anderen Schulen des Bundeslandes zu fürchten." Judite Gonçalves de Albuquerque würde das Bildungskonzept, für das sie als pädagogische Beraterin bereits seit den 70er Jahren arbeitet, gerne an weiterführenden Schulen im ganzen Land starten. "Die dort ausgebildeten Fachkräfte hätten ein wirklich fundiertes Verständnis der Probleme auf dem Land und könnten effektivere Lösungen für sie entwickeln."
Die ehemalige Bildungsbeauftragte des Landkreises Edilúci de Freitas ist fest davon überzeugt, dass das Bildungskonzept die beste Alternative ist, um "das Überleben der Schule auf dem Lande zu sichern", trägt es doch langfristig zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner bei. Für Lehrerin Maria gibt es "kein Zurück mehr" zum alten Schulkonzept. "Das wäre Stagnation", meint die Pädagogin. "Das neue Bildungskonzept weckt in uns eine positive Unruhe, den Wunsch, uns ständig weiterzubilden, unseren Horizont zu erweitern und unser Bestes zu geben."