Wischen statt blättern
29. November 2012Die digitale Revolution scheint gerade eine der letzten Bastionen zu erobern – das Reich der klassischen Musik. Dieses Genre stammt aus der vorindustriellen Zeit und weckt eher Assoziationen an Kerzenlicht und Kaminfeuer. Jetzt bedient es sich ebenfalls der Spitzentechnologie – in Gestalt des Tablet-Computers.
Stürmischer Applaus brandete auf, als die Brüsseler Philharmoniker kürzlich bei einem ausverkauften Konzert im Flagey-Kulturzentrum im Herzen der Stadt feierlich ihre Papiernoten gegen Tablets austauschten. Die Musiker spielten Stücke von Wagner und Ravel und wischten dabei über Touch Screens anstatt Seiten umzublättern.
Ein innovatives Orchester
Bis vor kurzem war das Orchester vor allem deswegen berühmt, weil es 2012 den Oscar für den Soundtrack des Stummfilms "The Artist" gewann. Jetzt könnte die Zusammenarbeit mit Samsung den Ruhm noch mehren. Die Brüsseler Philharmoniker haben sich mit dem koreanischen Technologie-Riesen und der Software Firma "neoScores" zusammengetan und wollen in den kommenden Jahren jede Papiernote durch die digitale Version ersetzen.
"Es ist erst ein paar Monate her, dass Samsung an uns herantrat und fragte, ob wir uns vorstellen könnten, einige Musikwerke mit Tablets aufzuführen", sagt Michel Tabachnik, der künstlerische Leiter der Brüssler Philharmoniker. "Während wir spielen, müssen wir nur den Bildschirm berühren, um eine Seite umzublättern; und wir können sogar darauf schreiben – notieren, wie man den Bogen streicht, ob man ein Forte spielt oder jede andere musikalische Anmerkung. Das ist wirklich etwas ganz Neues."
Tabachnik ist überzeugt, dass so die Zukunft aussehen wird, aber er räumt auch ein, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. "Das Projekt muss auf jeden Fall weiter entwickelt werden. Wir brauchen mindestens ein Jahr, damit das Ganze besser spielbar wird. Noch stehen wir ganz am Anfang."
Sie mögen noch am Anfang stehen, aber das Tablet-Projekt ist nicht der erste Ausflug der Philharmoniker in die Welt der Technologie. Im September dieses Jahres gab das Orchester eine Reihe von Klingeltönen für Mobiltelefone heraus, die man auf ihrer Homepage kostenlos herunterladen kann.
Tabachniks persönliches Credo lautet denn auch: Die Brüsseler Philharmoniker sind kein Museum, sie sind eine Plattform für lebendige Musik. "Wir schauen weit über den Tellerrand hinaus, um neue Wege zu finden, wie man Musik machen und aufführen kann."
Die Zeiten ändern sich
Das Phänomen der Digitalisierung könnte den Markt der Notenblätter genauso verändern wie es im Büchergeschäft schon geschehen ist: Beethoven, Debussy oder Brahms – ganz einfach per Mausklick verfügbar. Es gibt auch ein ökologisches Argument, das für die neue Technik spricht. Digitale Noten sind billiger. Rund 25.000 Euro geben die Brüssler Philharmoniker nach eigenen Schätzungen jährlich für gedruckte Notenblätter aus.
Die Hälfte der Entwicklungsarbeit an der neuen Software leistete Jonas Cooman. Er spielt im Orchester Fagott und hat das Programm "neoScore" gemeinsam mit einem Freund entwickelt, dem Programmierer Bob Hamblok.
"Die digitale Visualisierung wird dazu führen, dass Musiker ihre Noten anders behandeln", meint Hamblock. "Die Tablets bieten weit mehr Möglichkeiten als herkömmliche Papiernoten. Ich bin sicher, dass sie sich durchsetzen werden. Schon allein deswegen, weil die jetzige und die nächsten Generationen mit moderner Technologie aufwachsen und diese außerdem immer einfacher zu bedienen sein wird."
Frei von Papierballast
Vorbei die Tage, als man mit schweren und unhandlichen Papiernoten reisen musste, schwärmen Enthusiasten. Dank des Tablet-PCs kann man fast alle Noten der Welt in einem einzigen Gerät speichern, das auch noch unter einem Kilo wiegt.
Einer der Anhänger ist Stephan Uelpenich, Bratschist bei den Brüsseler Philharmonikern. Auch wenn er bei den Konzerten einen größeren PC-Bildschirm begrüßen würde, steht er auf jeden Fall hinter der neuen Technologie. "Ich kann das Tablet jeden Morgen im Zug mitnehmen und noch mal all meine Noten durchgehen", sagt er. "Die Papierberge in meinem Archiv zuhause werden überflüssig – alle meine Studien passen in dieses kleine Ding, es ist wirklich unglaublich. Allein von Ravels "La Valse" habe ich hier mehr als zehn Versionen."