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In der Armenier-Frage fehlt Ankara die Reife

Rainer Sollich14. April 2005

Kurz vor dem 90. Jahrestag des Massenmordes an Armeniern im Osmanischen Reich am 24. April 1915 gab es im türkischen Parlament am Mittwoch (13.4.) eine Debatte dazu. Selbstkritik oder Bedauern waren nicht zu vernehmen.

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Die Anerkennung des Todes von bis zu 1,5 Millionen Armeniern als Völkermord gehört nicht zu den formellen Kriterien für einen türkischen EU-Beitritt. Ebenso wenig eine offizielle Entschuldigung für das tragische Schicksal der Armenier vor 90 Jahren im auseinander brechenden Osmanischen Reich. Trotzdem gibt es auf Seiten der Europäer völlig zu Recht die Erwartung, dass Ankara sich auch den dunklen Seiten der türkischen Geschichte stellt und diese selbstkritisch und ohne nationalistische Tabus aufarbeitet. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Die Europäische Union ist kein reiner Wirtschaftsclub, sondern eine Wertegemeinschaft, die seit jeher auch vom Gedanken der Völker-Versöhnung getragen wird - die einstigen "Erbfeinde" Frankreich und Deutschland haben genau dies vor knapp einem halben Jahrhundert beispielhaft vorgemacht.

Kein Leugnen und Schönfärben

Für das Leugnen oder Schönfärben vergangener Gewaltorgien darf im heutigen Europa kein Platz mehr sein - das sollte endlich auch in Ankara begriffen werden. Bemerkenswert immerhin, dass es dort jetzt eine Parlamentsdebatte über das Verhältnis zu Armenien gegeben hat. Und Regierungschef Recep Tayyip Erdogan schlug dem verfeindeten Nachbarn sogar die Gründung einer gemeinsamen Historiker-Kommission vor. Keine Frage: Dies ist erst einmal als Fortschritt zu werten.

Es war allerdings der einzige. Von Selbstkritik, Scham oder gar Mitleid mit den Opfern von damals keine Spur - stattdessen wurde lediglich versucht, die Massentötung der Armenier gegen das Schicksal türkischer Muslime aufzurechnen, die seinerzeit durch Aufstände christlicher Minderheiten ums Leben kamen. Natürlich ist auch dies ein Teil der historischen Wahrheit - aber eben nur ein Teil davon. Warum nicht auch die eigene Schuld ins Blickfeld nehmen? Offenbar fehlt es dafür an Souveränität und Selbstbewusstsein.

Nationalistische Wallungen

Es ist beunruhigend, welche nationalistischen Wallungen und Abwehrreflexe das Armenier-Thema nach wie vor in der türkischen Öffentlichkeit auslöst. Als der populäre türkische Schriftsteller Orhan Pamuk kürzlich erklärte, in der Türkei seien "30.000 Kurden und eine Million Armenier" ermordet worden, hagelte es nicht nur Strafanzeigen, sondern auch Morddrohungen. In dieser aufgeheizten Stimmung kann wohl nur Aufklärung weiterhelfen, die schon in den Schulen und insbesondere in Schulbüchern ansetzen müsste. Die Armenien-Debatte im türkischen Parlament hat freilich verdeutlicht, dass selbst die politische Elite hier noch einen weiten Weg vor sich hat. Von europäischer Reife war da leider gar nichts zu spüren.

Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass auch die Deutschen eine gewisse Mit-Verantwortung für das Schicksal der Armenier tragen. Die Führung des damals mit den Türken verbündeten Deutschen Reiches war von Anfang an in die Vernichtungspläne eingeweiht. Die Deutschen blieben aber untätig - aus kriegsstrategischen Gründen. Und es war Adolf Hitler, der wenige Jahrzehnte später seine systematische Ausrottungspolitik zynisch mit den Worten begründete: "Wer redet heute schon noch von der Vernichtung der Armenier?!" Heute wird wieder darüber gesprochen. Denn Unrecht verjährt nicht.