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"In Russland schätzt niemand das Vermächtnis meiner Mutter"

Marina Baranovska
25. Oktober 2023

Anna Politkowskaja hat vorausgesehen, was in Russland passiert. Die Tochter der ermordeten Journalistin erklärt in ihrem Buch, warum niemand auf die Warnungen ihrer Mutter hörte und wie Russland nach Putin sein könnte.

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Cover des in Deutschland erschienenen Buches von Vera Politkowskaja über ihre Mutter mit einem Portrait von Anna Politkowskaja
Cover des in Deutschland erschienenen Buches von Vera Politkowskaja über ihre MutterBild: Marina Baranovska/DW

Auf der Frankfurter Buchmesse wurde das im Klett-Cotta-Verlag erschienene Buch "Meine Mutter hätte es Krieg genannt" vorgestellt. Autorin ist Vera Politkowskaja, die Tochter der russischen Journalistin, Menschenrechtsaktivistin und Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja, die am 7. Oktober 2006 in Moskau getötet wurde. In den 1990er Jahren wurde Anna Politkowskaja als Reporterin der Zeitung "Nowaja Gaseta" bekannt - vor allem aufgrund ihren Reportagen aus dem Nordkaukasus. Ihr Lebensthema war der Zweite Tschetschenienkrieg.

Der Titel des Buchs von Vera Politkowskaja bezieht sich auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine, der in Russland als "militärische Sonderoperation" bezeichnet wird. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine ging Vera Politkowskaja nach Italien, wo sie heute als freie Journalistin arbeitet. Die DW sprach mit ihr auf der Buchmesse in Frankfurt.

DW: Frau Politkowskaja, in Deutschland ist Ihr Buch mit dem Titel "Meine Mutter hätte es Krieg genannt" erschienen. Wie und wann haben Sie sich entschieden, es zu schreiben?

Vera Politkowskaja: Wir haben in der Familie jahrelang darüber nachgedacht, dass viel über die Arbeit meiner Mutter bekannt ist - wie sie in Tschetschenien weilte und worüber sie schrieb. Aber zugleich wusste man wenig über ihre Persönlichkeit. Das Leben meiner Mutter bestand nicht nur aus Arbeit, es gab auch eine andere Seite, die fast niemand kannte. Und wir haben oft darüber gesprochen, dass es gut wäre, wenn einer von uns diese andere Seite beschreiben würde. Als mir angeboten wurde, dieses Buch zu schreiben, habe ich sofort zugesagt.

Portrait von Vera Politkowskaja vor einem Regal mit ihrem neuen Buch auf der Frankfurter Buchmesse
Vera Politkowskaja auf der Frankfurter BuchmesseBild: Marina Baranovska/DW

Wie war Ihre Mutter?

Sie war eine schwierige Person, denn ein einfacher Mensch wäre kaum fähig, eine solche Arbeit zu leisten und auszuhalten. Sie hatte einen ziemlich komplizierten Charakter, der sich sowohl bei der Arbeit als auch in der Familie zeigte. Mein Bruder und ich haben als Kinder oft erlebt, dass unsere Mutter eine ganz klare Vorstellung davon hatte, wie sich unser Leben entwickeln sollte. Unsere Ausbildung lag ihr sehr am Herzen, das war ein sehr wichtiges Thema für sie. Und natürlich gab es Protest, weil wir Teenager waren und andere Dinge tun wollten.

Was dachten Sie in Ihrer Jugend über die Arbeit Ihrer Mutter bei der "Nowaja Gaseta"? Haben Sie sie unterstützt?

In den frühen 1990ern war ich noch ein Kind, dann ein Teenager. Da war ich mehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt, daher kann ich nicht sagen, dass ich ihrer Arbeit große Aufmerksamkeit geschenkt habe. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren begann meine Mutter, sich aktiv mit Tschetschenien zu befassen. Dann kamen die ersten Probleme, die mit ihrer Sicherheit zu tun hatten. Ihr war klar, was sie tat. Auf uns wirkte sich ihre Arbeit damals vor allem so aus, dass sie Sicherheitsfragen mit uns besprach und uns zur Vorsicht ermahnte.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihre Mutter den eigenen Tod geahnt habe …

Ja, das begann nach dem Tod ihres Kollegen Jurij Schtschekotschichin. Er wurde vergiftet. Danach begann meine Mutter auf ziemlich seltsame Weise davon zu sprechen, dass es wohl ein schöner Tod sein müsste, wenn sie - sollte es ihr Schicksal sein - auf die gleiche Weise wie Jurij Schtschekotschichin getötet würde. Sie sagte, es wäre schön, wenn es ein Strauß Rosen wäre, bestreut mit Gift. Sie würde ihn nehmen, tief Luft holen und auf eine für eine Frau so schöne Weise sterben.

Aber Scherz beiseite, es gab in der Tat ernsthafte Gespräche darüber, wie sie begraben werden wollte, was zu tun wäre, wenn sie stirbt, wo sich im Haus alle Dokumente und Geld befinden. Das kam natürlich nicht oft vor, es war aber Thema.

Ihr Buch wurde erstmals in Italien herausgegeben, danach in Finnland und jetzt in Deutschland. Planen Sie eine Ausgabe auf Russisch?

Bisher ist das nicht geplant. Erstens denke ich, dass dieses Buch in Russland wahrscheinlich kein nennenswertes Publikum finden würde. Zweitens, seien wir ehrlich: Was derzeit in Russland passiert, steht absolut nicht im Einklang mit dem, was in diesem Buch geschrieben steht. Ein gewisser Teil der Menschen in Russland wäre vielleicht daran interessiert, es zu lesen, aber es ist noch nicht die richtige Zeit dafür. Vielleicht irgendwann.

Vera Politkowskaja sitzt auf einem Stuhl und spricht in ein Mikrofon bei der Präsentation ihres Buches in Frankfurt
Vera Politkowskaja bei der Präsentation eines Buches in FrankfurtBild: Marina Baranovska/DW

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie erfuhren, dass Russland die Ukraine angegriffen hat?

Das war ein Schock. Obwohl alle westlichen Medien vorher verkündet hatten, dass dies geschehen werde, wollte ich es natürlich nicht wahrhaben. Einige Tage vor Beginn gab es jene berühmte Rede Putins (in der er die Anerkennung der Unabhängigkeit der "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" erklärte - Anm. d. Red.). Als ich das hörte, wurde mir klar, dass es so weit kommen wird. Dennoch war das Ausmaß dieses Krieges schwer vorstellbar. Und der erste rationale Gedanke nach Kriegsbeginn war, nachdem ich mich von dem Schock ein wenig erholt hatte, dass ich das Land verlassen muss. Wenn wir - im Sinne von Russland - vorher am Rande eines Abgrunds standen, so stürzten wir in diesem Moment einfach in ihn hinein.

Was muss passieren, damit sich die öffentliche Meinung in Russland ändert?

Unabhängigen soziologischen Untersuchungen zufolge befürworten höchstens 30 Prozent der Bevölkerung den Krieg. Und ich denke, dass das stimmt. Die Menschen wollen keinen Krieg. Ein weiteres Problem ist die Unterstützung für Putin. Es gibt tatsächlich Menschen in Russland, die glauben: Wer, wenn nicht Putin, könnte ein so großes Land mit so vielen Problemen regieren? Ich werde diese Menschen jetzt nicht kritisieren, aber ich bin natürlich der Meinung, dass sie im Unrecht sind.

Es ist klar, dass das derzeitige System in Russland nicht verschwinden wird, solange Putin nicht weg ist und alles in diesem Geiste weitergehen wird. Höchstwahrscheinlich wird er bis 2036 an der Macht bleiben. Aber die Menschen glauben vergeblich, dass wir, wenn Putin weg ist, sofort ein wunderbares Russland der Zukunft bekommen werden. Mit seinem Abgang wird sich so schnell nichts ändern. Im Jahr 2036, nach seinem Weggang, werden große neue Probleme auftauchen.

Es wird ein Kampf um die Macht beginnen, der höchstwahrscheinlich blutig und sehr hart sein wird. Dann wird es jahrelang im Lande gären und erst nach vielen Jahren wird im besten Fall eine vernünftige Person an die Macht kommen. Ist Ihnen klar, über welchen Zeitrahmen wir sprechen? Ich weiß nicht, ob ich das noch erleben werde.

Blumen und eine Kerze vor einem gerahmten Bild von Anna Politkowskaja (2017)
Journalistin Anna Politkowskaja wurde am 7.Oktober 2006 im Aufzug ihres Hauses erschossenBild: picture-alliance/dpa/TASS/A. Demianchuk

Ihre Mutter hat in ihrem Buch "In Putins Russland" und in ihren Artikeln vieles vorhergesagt, was nach ihrem Tod eintrat - dass die Kriege in Tschetschenien erst der Anfang sind und wozu Putins Herrschaft führen wird. Warum wurden ihre Warnungen nicht ernst genommen, weder in Russland noch im Westen?

Menschen, die ihre Werke damals lasen, sowohl in Russland als auch im Westen, glaubten, dass sie stark übertreibe. Aber wie die spätere Geschichte gezeigt hat, war nichts davon übertrieben.

Welches Vermächtnis hat Ihre Mutter hinterlassen?

Alle Dinge beim Namen zu nennen. Zu begreifen, dass man nicht falsch liegt, nur weil man in der Minderheit ist. Und im Einklang mit seinen eigenen Ansichten und mit der eigenen Einschätzung der Lage zu handeln. Wenn wir über das journalistische Vermächtnis sprechen, so hoffe ich, dass es irgendwo außerhalb Russlands in Ehren gehalten wird. Aber in Russland, und das kann man mit Sicherheit sagen, schätzt niemand ihr Vermächtnis.

Das Gespräch führte Marina Baranovska