In Zahlen: Mehr Migration, mehr Mauern
13. August 2021Obwohl Litauen und die Dominikanische Republik Tausende Kilometer voneinander entfernt liegen, haben sie eine Gemeinsamkeit: Beide Länder haben sich dazu entschieden, ihre Grenzen weiter dicht zu machen.
Beide Länder stehen für einen aktuellen Trend: Die heutige Welt sieht mehr Flüchtlinge und Asylbewerber als vor zwei Jahrzehnten. Politische Auseinandersetzungen und die Auswirkungen des Klimawandels zählen zu den Gründen, warum Menschen weltweit gewaltsam vertrieben werden oder fliehen müssen.
Die Weltbevölkerung ist im Laufe der vergangenen 20 Jahre um ein Viertel gewachsen. UN-Daten zufolge hat sich in demselben Zeitraum die Anzahl der Flüchtlinge und Asylbewerber verdoppelt. Heutzutage ist einer von 97 Menschen gewaltsam vertrieben worden. 2015 lag das Verhältnis bei 1:175. Die meisten dieser Menschen haben in Ländern im westlichen Asien oder Nordafrika Zuflucht gefunden, etwa in der Türkei oder im Sudan.
Lateinamerika und die Karibik verzeichnen die höchste Zunahme an Flüchtlingen: von 44.000 im Jahr 2000 auf 4,8 Millionen in den letzten 20 Jahren. Die meisten Menschen sind nach Kolumbien, Chile und Peru geflohen. Den Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge lag dies hauptsächlich daran, dass etwa 3,6 Millionen Venezolaner, die ihre Heimat verlassen haben, in die aktuellsten Zahlen mit einbezogen wurden.
Auch in anderen Regionen wie Subsahara-Afrika oder Europa und Nordamerika haben sich die Zahlen seit dem Jahr 2000 nahezu verdoppelt.
Mehr Flüchtlinge, mehr Mauern
Während immer mehr Menschen fliehen oder migrieren, bauen Regierungen gleichzeitig immer mehr Grenzzäune und Mauern. Aus von der DW gesammelten Daten geht hervor: Von 2000 bis 2021 die Anzahl der Grenzmauern, deren Bau abgeschlossen ist oder angefangen oder angekündigt wurde, weltweit mehr als verfünffacht. Gab es früher 16 Grenzmauern, so gibt es heute mehr als 90.
Laut einer Studie des Delàs-Zentrums für Friedensforschung bauten Regierungen Grenzmauern nicht nur wegen der Flucht und Migration vieler Menschen, sondern auch aufgrund von Warenschmuggel sowie Menschen- und Drogenhandel. Aber auch die Sorge vor Terrorismus sei ein Grund. In der Studie ging es um Grenzmauern, die zwischen 1968 und 2018 gebaut wurden.
Höchst militarisierte Barrieren
Ob Grenzmauern Migration verringern und illegalen Handel oder Terroranschläge verhindern, hängt von vielen verschiedenen miteinander verknüpften Faktoren ab.
Einer dieser Faktoren ist die Art wie sie gebaut sind – viele Mauern in der Welt unterscheiden sich in Bauweise und Überwachung. In einer Studie des Forscherteams aus Victoria Vernon und Klaus Zimmermann heißt es: "Zu den massivsten Grenzen zählt die Grenze zwischen Kuwait und dem Irak. Diese besteht aus einem elektrifizierten Zaun und Stacheldraht, gestützt von einem 4,6 Meter breiten und 4,6 Meter tiefen Schützengraben, inklusive einer drei Meter hohen Schmutzberme; außerdem bewacht von Hunderten Soldaten, mehreren Patrouillenbooten und Hubschraubern."
Zu den relativ durchlässigen Grenzen zählten die Grenzzäune zwischen Malaysia und Thailand sowie Indien und Bangladesch. "Beide Grenzen werden nur wenig überwacht. Dadurch sind sie keine wirksamen Abschreckungen für Migranten und Schmuggler, die oft gefälschte Dokumente und Schmiergelder verwenden, um die Grenze zwischen zwei Ländern zu überqueren", so Vernon und Zimmermann.
Mauern sind nicht alle gleich
Ob Mauern Menschen davon abhalten zu fliehen, ist nicht eindeutig zu beantworten. "Es gibt keinen wissenschaftlichen Konsens darüber", sagt Sergi Pardos-Prado, Politikwissenschaftler an der Universität Glasgow, im DW-Interview. "Das heißt, Mauern sind nicht allgemeingültig effizient."
"Manchmal finden Migranten alternative Routen: über das Meer oder alternative, indirekte Landverbindungen. Mauern sind zeitaufwändige und teure Konstruktionen. Manchmal kann man den Zugang an einer bestimmten Stelle verhindern, aber gleichzeitig schafft das den Anreiz auf andere Stellen auszuweichen, die noch im Bau-Stadium sind oder weniger robust. Selten findet man einen perfekten, massiven, festen, undurchdringlichen Block, der die komplette Grenze abdeckt."
Mauern werden auch aus Sorge um die Sicherheit gebaut, etwa um Terroranschläge zu vermeiden. Laut neuester Forschungsergebnisse von Pardos-Prado kann der Bau von Grenzmauern die Wahrscheinlichkeit für Terrorangriffe erhöhen, anstatt diese zu verhindern – unter zwei Voraussetzungen.
In Fallstudien zur saudi-arabisch-irakischen und israelisch-ägyptischen Mauer haben Forscher festgestellt, dass sich die Haltung der Bevölkerung dem jeweils anderen Land gegenüber erheblich verschlechtert hat, nachdem eine Mauer gebaut wurde. "Der Bau einer Mauer signalisiert und intensiviert den Konflikt, jenseits der konfliktreichen Bedingungen, die auch vor dem Bau der Mauer bereits latent vorhanden waren", beschreibt Pardos-Prado die erste Voraussetzung.
Die zweite Voraussetzung: Die Anwesenheit einer großen Gruppe von Flüchtlingen und Migranten, die aus Ländern kommen, wo sich transnationale Terrororganisationen befinden. Dann könnten flüchtende Menschen von Terroristen rekrutiert werden, so die Theorie der Forscher.
"Gibt es eine große Gruppe von Flüchtlingen, die jedoch aus Ländern kommen, wo keine transnationalen Terrororganisationen sind, erhöht der Mauerbau auch nicht die Wahrscheinlichkeit für Anschläge", so Pardos-Prado.
Grenzmauer sind auch nicht gut für die Wirtschaft
Auch für die Wirtschaft beobachten Forscher negative Folgen. Während Grenzmauern war den gesetzeswidrigen Handel verringern können, reduzieren sie dabei aber auch den legalen Handel.
In einer Studie der Universitäten Washington and Chicago haben die Forscher über 50 Grenzmauer weltweit analysiert. Ungeachtet des beabsichtigten Zwecks der Mauer ist der legale Handel der Länder, zwischen denen sich eine Grenzmauer befindet, um bis zu 31 Prozent eingebrochen.
Außerdem verringert der Bau von Mauern nicht nur den Handel, sondern verursacht auch zusätzliche Kosten. Zu den Kosten des eigentlichen Mauerbaus kommen noch Kosten für Firmen, die legalen Handel betreiben sowie für die Personen, die die Grenzen legal überqueren.
"Ist es eine Mauer wert, wenn sie 40 Tausend Menschen daran hindert, in den USA zu arbeiten? Ist sie es wert, wenn es drei Milliarden US-Dollar kostet, sie aufzubauen - sogar viel mehr braucht, um sie aufrechtzuerhalten? Ist es das wert, wenn Tausende Menschen sterben, bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren?", schreibt Ökonomin Victoria Vernon in einer E-Mail an die DW.
Alternativen zu Grenzmauern
Aber wenn Grenzmauern und -zäune keine einwandfreie Maßnahme sind, um Migration verringern oder Terrorismus aus dem Land zu halten oder nur den illegalen Handel zu verringern – was wären dann Alternativen?
"Wirtschaftswissenschaftliche Literatur suggeriert überwiegend, dass eine Politik der offeneren Grenzen besser ist für die lokale Bevölkerung als Mauern", so Vernon und Zimmermann.
Wirtschaftsreformen seien effizienter als Mauern. Auch Diplomatie sei mit Blick auf die Sicherheitsfrage besser als ein Mauerbau, betonen sie in ihrer Studie.
"Mauern und Zäune können kurzfristige Instrumente sein", schreibt der Ökonom Klaus Zimmermann in einer E-Mail an die DW. Die meisten Sozialwissenschaftler, die Migration und Flucht erforschten, würden allerdings denken, dass diese "keine vernünftigen Instrumente" seien.
Grenzmauern seien "für Politiker meistens ein politisches Vorzeigeprojekt, um Wähler kurzfristig zu beeindrucken", so Zimmermann.
Waleed Al-Bast, Emad Ghanim, Abdo Al-Mikhlafy, Yalda Zarbakhch, Daniel Bellut, Florian Meyer und Marina Baranovska haben zu diesem Stück beigetragen.
Für die Daten und Methodologie, die hinter dieser Analyse stecken, siehe dieses "GitHub repository"