Indiens Problem mit religiöser Gewalt: Was steckt dahinter?
16. August 2023Im Norden Indiens, gleich neben der Hauptstadt Neu Delhi, liegt der Bundesstaat Haryana. Hier marschierte Ende Juli eine strenggläubige Hindu-Gruppe durch den muslimisch dominierten Bezirk Nuh und machte den Staat, der von der Partei des Premierministers Narendra Modi, der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), regiert wird, zum jüngsten Brennpunkt religiöser Gewalt in Indien. Mehr als sechs Personen wurden bei den Zusammenstößen getötet, über 50 verletzt.
Paradoxe Reaktion der Regierung
Die Gewalt griff auch auf die Stadt Gurgaon (Gurugram) über. Dort setzte ein Mob eine Moschee in Brand und tötete einen der führenden Imame. In einem überwiegend von Muslimen bewohnten Arbeiterviertel brannten die Aufrührer zudem Geschäfte und Fahrzeuge nieder.
Die Behörden reagierten wie üblich, wenn es in von der BJP regierten Staaten zu solchen Ausschreitungen kommt: Sie ließen Geschäfte und provisorische Bauten, die Muslimen gehören, mit der Begründung abreißen, es handle sich um illegal errichtete Gebäude. 94 Häuser und 212 andere Bauten wurden diesmal zerstört. Die Gesamtzahl der von den Behörden in den letzten Tagen zerstörten Gebäude erhöht sich damit auf mehr als 750. Erst diese Woche wurde die Aktion ausgesetzt, nachdem das Oberste Gericht des Bundesstaates eine Pause anordnete.
Der Regierung des Bundesstaates wird vorgeworfen, sich mit ihrer Reaktion gegen Muslime zu richten, obwohl diese Ziel der Gewalt waren. Asaduddin Owaisi, Abgeordneter und Vorsitzender der Partei All India Majlis-e-Ittehadul Muslimeen, etwa verurteilte das Vorgehen der BJP-geführten Regierung und warf ihr vor, die Täter auf freiem Fuß zu lassen.
"Diese Aktion ist völlig einseitig. Diejenigen, die Gewalt ausüben, bleiben frei. Aber Hunderte von armen Muslimen sind jetzt obdachlos und der gezielte Abriss von Gebäuden betrifft vor allem sie", beklagte er im Gespräch mit der DW. Solche staatlichen Eingriffe "finden insbesondere dann statt, wenn es zu religiöser Gewalt oder Protesten kam", fügt er hinzu.
Die BJP sucht die Schuld bei anderen
Viele Muslime berichten, dass sie nicht vor einem Abriss gewarnt wurden, andere erzählen, dass sie zum Zeitpunkt der Ausschreitungen gar nicht in ihren Häusern waren. Die BJP wiederum erklärte, hinter den Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen stecke eine größere Verschwörung, sie würde die Geschehnisse untersuchen.
"Sollten beide Gruppen bewaffnet gewesen sein, ist festzustellen, wie sie an diese Waffen gekommen sind und warum eine solche Stimmung erzeugt wurde. Die Regierung von Haryana wird eine Untersuchung durchführen", sagte Rao Inderjit Singh, ein Minister der BJP, vor der Presse.
Meenakshi Ganguly, stellvertretende Direktorin für Asien bei Human Rights Watch, bezeichnete Ereignisse wie das in Haryana und anderen Landesteilen als das bedauerliche, aber offensichtliche Resultat der hindunationalistischen Politik der BJP-Regierung. "Es ist außerordentlich erschreckend, dass die indischen Behörden auf Gewalt zwischen Volksgruppen so parteiisch reagieren und die, die zu Gewalt gegen Minderheiten aufrufen, nicht bestrafen, sondern stattdessen diese Minderheiten strafrechtlich und kollektiv verfolgen, als hätten diese die Gewalt provoziert", sagte Ganguly zur DW.
Indien verrät seine säkularen Werte
In ganz Indien uferten im Laufe des vergangenen Jahres hinduistische Prozessionen mehrfach in Gewalt und Chaos aus. Mittlerweile machen sich viele Menschen Sorgen wegen der wachsenden Polarisierung.
Bei dem Versuch, die illegale Bebauung einzudämmen, gingen die BJP-geführten Regierungen in Neu Delhi, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und Gujarat mit Bulldozern gegen die Bauten dutzender muslimischer Eigner vor. Laut Behörden betrafen diese Abrissarbeiten nur illegal errichtete Gebäude, Kritiker und Menschenrechtsgruppen sehen die Maßnahmen jedoch als Versuch, Muslime zu schikanieren und an den Rand zu drängen. Sie verweisen auf den Anstieg religiöser Spannungen unter der Regierung Modi. Unter seiner seit 2014 amtierenden rechtsgerichteten Regierung, so seine Gegner, habe Indien seine säkularen Werte aufgegeben.
"Die Gewalt in Nuh ist das Ergebnis einer Politik der Polarisierung. Es ist eine Strategie der BJP. Sie wollen, dass sich die Gewalt bis nach Rajasthan ausbreitet", sagt Jairam Ramesh, Kommunikationschef der Kongresspartei.
In den großen Bundesstaaten Rajasthan, Madhya Pradesh und Chhattisgarh stehen noch in diesem Jahr Wahlen zu den Abgeordnetenhäusern an, noch vor den Parlamentswahlen in ganz Indien im kommenden Jahr. Modi wird dann voraussichtlich eine dritte Amtszeit als Premierminister anstreben.
Auch in den Bundesstaaten Maharashtra, Westbengalen und Bihar kam es zu Beginn dieses Jahres zu ähnlichen Ausbrüchen kommunaler Gewalt. Meist beschränkten sich diese auf Steinwürfe, Brandstiftung und die Beschädigung von Geschäften und Einrichtungen. Die Häufigkeit dieser kleineren Zusammenstöße gibt jedoch mittlerweile Anlass zur Sorge.
Bericht macht Hindunationalisten für Gewalt verantwortlich
Anfang des Jahres machte ein ausführlicher Bericht der Citizens and Lawyers Initiative darauf aufmerksam, wie unversöhnliche Hindu-Organisationen in einem immer wiederkehrenden Muster während hinduistischer Feierlichkeiten Muslime provozieren und terrorisieren, um die Gesellschaft zu polarisieren. Der 174-seitige Bericht mit dem Titel "Routes of Wrath: Weaponising Religious Processions" legt dar, dass solche hinduistischen Prozessionen auf unterschiedlichen Wegen selbst als Hauptauslöser der Gewalt dienen.
"Auf den Prozessionen werden beleidigende Slogans und Musik eingesetzt, die offen zur Gewalt gegen Andersgläubige, insbesondere gegen Muslime, aufrufen", heißt es im Bericht. "Was als 'einfache religiöse Slogans' ausgegeben wird, sind in Wahrheit direkte politische Botschaften. Es sind Aufrufe, die bei Lynchmorden und Pogromen zu hören waren."
Hindutva-Ideologie untermauert ein hindunationalistisches Programm
Seit die BJP 2014 an die Macht kam, fühlen sich Muslime bedroht, doch die Feindseligkeit gegenüber der Gemeinschaft äußert sich immer unverhohlener. Hindus machen die überwiegende Mehrheit der 1,4 Milliarden Einwohner Indiens aus und in den vergangenen Jahren wurden die Rufe rechtsgerichteter religiöser Gruppierungen, Indien zu einer hinduistischen Nation zu erklären und die Vormachtstellung der Hindus im Gesetz festzuschreiben, immer lauter.
Diese Forderungen haben in Verbindung mit der hindunationalistischen Agenda der BJP religiöse Minderheiten, insbesondere Muslime, stark verunsichert. Kritiker warnen, dass Hassreden und Gewalt gegen die 210 Millionen Muslime des Landes in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben.
Der zentrale Glaubensgrundsatz der BJP lautet "Hindutva". Dabei handelt es sich um eine politische Ideologie, die die "Werte" des Hinduismus als Eckpfeiler der indischen Gesellschaft und Kultur propagiert. "Die Staatsmacht ist jetzt ein Erfüllungsgehilfe für Hindutva, einer Ideologie, die ihre expansionistische Absicht klar zum Ausdruck bringt. Für die verfassungsmäßige Ordnung liegt darin eine große Gefahr", sagte Sukumar Muralidharan, Wissenschaftler und unabhängiger Autor, zur DW.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.