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Inflation in Polen: Ist Putin Schuld?

Jo Harper
27. Juli 2022

Polen hat eine der höchsten Inflationsraten in Europa. Die Regierung gibt Russland die Schuld, Energie als Waffe zu benutzen. Kritiker hingegen machen Warschaus Finanzpolitik verantwortlich. Wer hat Recht?

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50-Zloty-Schein der Polnischen Nationalbank
50-Zloty-Schein der Polnischen NationalbankBild: picture-alliance/NurPhoto/J. Arriens

Die neuesten Prognosen der Polnischen Nationalbank (NBP) klingen düster: das Bruttoinlandsprodukt (BIP) soll voraussichtlich im ersten Quartal des nächsten Jahres auf knapp 0,5 Prozent sinken, während die Inflationsrate auf 18,8 Prozent ansteigen könnte. Demnach müsste sich die polnische Bevölkerung auf eine der drastischsten Preisanstiege Europas einstellen.

Schon jetzt ist die Inflation mit einer Rate von 15,5 Prozent im Juni auf dem höchsten Stand seit dem Ende des Kommunismus in Polen vor mehr als 30 Jahren.

Nach Angaben des Polnischen Wirtschaftsinstituts (PIE) resultiert der größte Teil der Teuerung von höheren Lebensmittel- und Energiekosten, die 66 Prozent des Preisanstiegs ausmachen. Die Verbraucherpreise für Energie sind seit Ende 2021 um 21,6 Prozent gestiegen, die Preise für Dienstleistungen um zwölf Prozent gestiegen, Industriegüter um zehn Prozent.

Um den Preisanstieg einzudämmen, hat die NBP die Zinsen seit Oktober vergangenen Jahres zehnmal in Folge erhöht, von einem Tiefstand von 0,1 Prozent auf jetzt 6,5 Prozent. Ludwik Kotecki von der Denkfabrik Monetary Policy Council (MPC) erwartet, dass die Zentralbank den Leitzins auf ihrer nächsten Sitzung im September erneut anheben wird.

"Putinflation" oder gescheiterte Innenpolitik?

Die aktuellen Preissteigerungen stehen im starken Kontrast zur wirtschaftlichen Stabilität der vergangenen 30 Jahre, mit jährlichen Inflationsraten von knapp über 3,5 Prozent. Außerdem war Polen der einzige EU-Mitgliedstaat, der nach der Finanzkrise 2008 der Rezession entkam.

Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) macht den Kreml für den Preisanstieg verantwortlich, nachdem Moskau im Zuge der russischen Invasion der Ukraine die Erdgas- und Getreideexporte beschränkt hat. Polen war eines der ersten Länder, dem Moskau das Gas abdrehte, während die Blockade ukrainischer Getreideexporte die Preise für Lebensmittel in die Höhe treibt.

Jaroslaw Kaczynski, der Vorsitzende der PiS-Partei, bezeichnete die Preissteigerungen als "Putinflation" und erklärte, die Politik seiner Partei sei lediglich für drei bis vier Prozentpunkte der Inflation verantwortlich.

Jegliche Behauptungen der Opposition, welche PiS die Verantwortung zuschieben würden, seien "eine unglaubliche Schwindelei", fügte er hinzu.

Auch auf dem Markt in Krakau sind die Preise gestiegen
Auch auf dem Markt in Krakau sind die Preise gestiegenBild: Omar Marques/SOPA Images via ZUMA Press Wire/picture alliance

Piotr Arak, Direktor des staatlich finanzierten Instituts PIE, teilt die Argumentation des Premierministers. "Seit dem Ausbruch des Konflikts wurden die Inflationsprognosen von etwa acht bis neun Prozent auf 13 Prozent korrigiert. Es ist sicher, dass diese Revision auf die 'Putinflation' zurückzuführen ist", sagte er der DW.

Arak verwies auch auf die in den vergangenen Jahren angestiegene Löhne, welche die Inflation weiter anheizen würden. Diese hätten eher weniger mit den massiven Sozialprogrammen zu tun, die vor fünf Jahren eingeführt wurden.

Schlechtes Management

Viele Experten sind dennoch der Meinung, dass die PiS-geführte Regierung mehr hätte tun können, um die Inflation vorausschauend zu mildern. Anthony Levitas von der Brown University in Providence (USA), sagte, die polnische Zentralbank habe "sehr langsam" auf den Anstieg der Inflation reagiert, die "eindeutig mit COVID-19 begann und dem Krieg vorausging".

"'Putinflation' ist eine clevere Methode, die Schuld auf einen Feind zu schieben, den die PiS im Vorfeld des Krieges auf bizarre Weise vernachlässigt hat", sagte er der DW.

Polnische Oppositionelle wie Donald Tusk, der Vorsitzende der Partei Bürgerplattform (CP) und ehemaliger Premierminister, machen die lockere Ausgabenpolitik der PiS-Regierung für die höheren Preise verantwortlich. Auch die NBP habe zu zögerlich mit der Anhebung der Zinsen begonnen, bis die Inflation Ende 2021 bereits recht schnell gestiegen sei, kritisieren sie.

"Was ist passiert, dass sie Polen, ein blühendes Land und der Stolz Europas, in nur sieben Jahren in ein Land verwandelt haben, in dem Wasser und Brot ein Problem sind?", fragte Tusk unlängst rhetorisch.

Inmitten der Coronavirus-Krise in Polen gab die PiS-Regierung zehn Milliarden Zloty ( umgerechnet 2,2 Milliarden Euro) für Barzahlungen an Haushalte aus und senkte die Mehrwertsteuer auf Gas von 23 auf acht Prozent. Darüber hinaus senkte sie die Steuer auf Brennstoff. Präsident Andrzej Duda unterzeichnete vor kurzem ein Gesetz, das es Kreditnehmern ermöglicht, Hypothekenraten um mehrere Monate zu verschieben.

Gasdruckanzeige an einer Pipeline von Gazprom
Aus Russland kommt kein Gas mehr nach Polen Bild: Sergey Dolzhenko/epa/dpa/picture-alliance

Ein gemischtes Bild

Rafal Benecki, Wirtschaftswissenschaftler bei der ING-Bank in Warschau, erklärte gegenüber DW, dass Polens Finanz- und Geldpolitik "definitiv zu angepasst" sei, um die Verbraucherpreisinflation einzudämmen. "Polen stützte die Nachfrage sogar im Jahr 2022, als andere Volkswirtschaften ihre Geld- und Haushaltspolitik strafften. Der externe Inflationsschock hatte also ausgezeichnete Bedingungen, um in die Wirtschaft einzudringen", sagte Benecki.

In seiner Analyse erklärt der ING-Experte weiter, dass externe Faktoren den Großteil der hohen Inflation in Polen erklären. Dennoch sei das Problem, dass "das Risiko einer anhaltenden Inflation in Polen höher ist als in anderen Volkswirtschaften der Region oder der Eurozone."

Liam Peach, Ökonom bei der Beratungsfirma Capital Economics, ist der Ansicht, dass die derzeitige Situation es der Zentralbank erschweren wird, die Inflation in den kommenden Jahren ohne eine starke Abschwächung der Wirtschaft wieder auf ihr Ziel zu bringen. "Polen und andere mittel- und osteuropäische Länder sind akut dem Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ausgesetzt", so Peach gegenüber der DW.

Wie lässt sich die Inflation bekämpfen?

Ironischerweise könnte eine starke Verlangsamung in Europas größter Volkswirtschaft – Deutschland - Polen dabei helfen, die Inflation zu senken, meinen einige Ökonomen.

"Es wird eine direkte Auswirkung durch eine Abschwächung der Auslandsnachfrage haben, die den polnischen Exportsektor verlangsamt und sich auf einen schwächeren Arbeitsmarkt, die Beschäftigung und die Binnennachfrage auswirkt, was zu einer Verlangsamung der Inflation führen sollte", sagt Peach. Darüber hinaus würde eine deutsche Konjunkturabschwächung wahrscheinlich die Befürchtung verstärken, dass sich die Weltwirtschaft ebenfalls verlangsamt, was sich auf die Rohstoff- und Energiepreise, einschließlich der polnischen Kraftstoffpreise, auswirken dürfte.

Dieses Szenario könnte jedoch auch den Inflationsdruck in Polen verstärken, so Peach. "Wenn sich die Anleger Sorgen über eine tiefe und lang anhaltende Rezession in Deutschland machen, könnte sich die Risikostimmung verschlechtern, den Euro und den Zloty stark abwerten und die importierte Inflation anheizen", sagte Peach und fügte hinzu, dass es derzeit "viele Wenn und Aber" gebe.

Jan Zygmuntowski, Ökonom bei der Warschauer Denkfabrik Polish Economy Network, fordert die Regierung auf, "ihre Finanzpolitik zu straffen, die Gewinnmargen der staatlich kontrollierten Unternehmen zu begrenzen und den Zloty zu stärken."

"Es wird Zeit brauchen, aber dafür ist es nie zu spät", sagte er gegenüber DW und fügte hinzu, dass das aktuelle Inflationsproblem "Polens jahrzehntelanges Versagen bei der Regulierung der Märkte, dem Abbau von Ungleichheiten und Investitionen in einen nachhaltigen Wandel" widerspiegelt.

Polens orthodoxe Technokraten, so betonte er, hätten sich daran gewöhnt, zu glauben, dass "der Zauberstab der Zinserhöhungen angebotsbedingte Probleme löst", während die regierende PiS glaube, "dass Geldtransfers den weniger Wohlhabenden helfen, bis sich der Markt anpasst".

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.