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Ingo Schulze: "Schutz und Unterstützung für Flüchtlinge"

Sabine Peschel13. April 2015

So wie bisher darf es nicht weitergehen, sagt der Autor Ingo Schulze und richtet gemeinsam mit 1000 Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus 26 Ländern einen eindringlichen Appell an die Politik - und jeden Einzelnen.

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Gegendemonstration NPD-Kundgebung
Bild: picture-alliance/dpa

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ingo Schulze bezieht immer wieder öffentlich Position. Jetzt spricht er über seine Kritik an der abschottenden Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und den von der deutschen Schriftstellervereinigung PEN initiierten Appell für ein besseres Asylrecht.

Deutsche Welle: Herr Schulze, was bedeutet Ihnen Gastfreundschaft?

Ingo Schulze: Sie haben Recht, im weitesten Sinne hat die Aufnahme von Flüchtlingen mit Gastfreundschaft zu tun, aber ein Gast ist in aller Regel jemand, der sich freiwillig auf den Weg gemacht hat, der die Reise geplant hat und dementsprechend vorbereitet in die Fremde geht. Ein Flüchtling ist in einer Notsituation. Und da geht es vor allem um die Verantwortung, die man als einzelner und als Staat hat.

Gemeinsam mit anderen Kollegen und Mitgliedern des PEN-Präsidiums möchten Sie am Montag im Innenministerium in Berlin einen von 1000 Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus 26 Ländern Europas unterzeichneten Appell überreichen, der sich für Flüchtlinge einsetzt. Was erhoffen Sie sich von diesem internationalen Engagement?

Es ist notwendig, dass die von uns gewählten Politiker unsere Erwartung und den Wunsch deutlich zu hören bekommen: Wir als Bürger Europas müssen mehr Verantwortung tragen für diejenigen, die Schutz und Unterstützung brauchen. So wie bisher darf es nicht weitergehen. Und das müssen möglichst viele und an vielen Orten sagen. Die Gegner einer besseren Flüchtlingspolitik jedenfalls artikulieren sich sehr laut und mit Anschlägen. Das kann man ja nicht einfach hinnehmen und es allein der Polizei und Justiz überlassen.

Schriftsteller Ingo Schulze
Schriftsteller Ingo SchulzeBild: picture-alliance/dpa/S. Stache

"Wer nach Europa will riskiert sein Leben"

Im Nachhinein erscheint es unfasslich, dass während der Nazizeit nur wenige Länder jüdische Flüchtlinge ins Land ließen. Heute sind wir mediale Zeugen des Massensterbens von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Warum helfen wir nicht viel mehr?

Es ist ja heute nicht so, dass die Verantwortlichen böse Menschen sind und deshalb das Geld für den Küstenschutz und Rettungsmaßnahmen streichen. Es ist Wunsch und Wille der Politik, und damit letztlich all derer, die diese Politiker wählen, dass es den Flüchtlingen so schwer wie nur irgend möglich gemacht wird, nach Europa zu kommen. Wer nach Europa will, riskiert sein Leben. Wir ertragen das nur, indem wir das verdrängen. Die Vorstellung, die eigene Familie dem Risiko des Ertrinkens auszusetzen – und das Boot ist ja schon ein Ziel, vor dessen Erreichen viele ihr Leben oder ihre Gesundheit lassen – ist unerträglich. Also verdrängen wir das, wir haben sowieso schon genug zu tun. Ich weiß keinen anderen Weg, als sich der Verantwortung Europas für die Folgen von Kolonialismus, Kalten Krieg und Neokolonialismus klar zu machen. Im Falle des Zweiten Weltkrieges ist das, was von Deutschen in der Welt angerichtet wurde, vergleichsweise gut dokumentiert. Da ist Deutschland viel erlassen worden, und es hat Unterstützung erhalten, zumindest im Westteil. Wir können diese Welt eben tatsächlich nur als eine Welt begreifen und unserer Mitverantwortung gerecht werden. Man muss kein Schwarzseher sein, um zu sagen, dass die Völkerwanderung noch gar nicht begonnen hat.


"Es sind nicht die Einheimischen, die auf eine grundsätzliche Veränderung hoffen. Es sind die Flüchtlinge." Das sagten Sie in einer Ihrer Leipziger Poetikvorlesungen von 2007/08, bezogen auf Ihr Buch "Adam und Evelyn". Auf welche Veränderungen müssen Flüchtlinge heute hoffen?

Bis zu 700 tote Flüchtlinge bei Schiffsunglücken im Mittelmeer
Sie fahren in Nussschalen auf Europa zu - und viele bezahlen dabei mit ihrem Leben.Bild: picture-alliance/dpa/Italian Navy/Handout

Darauf, dass wir die Welt eben als eine Welt begreifen und uns unserer Mitverantwortung für die Zustände anderswo bewusst werden. Ich glaube nicht, dass diese Probleme im Rahmen von Wachstum und des immer Mehr gelöst werden können, weder ökologisch noch sozial. Der immer weitergehende Polarisierung in Deutschland und allen anderen Industrieländern von jenen, die viel besitzen und jenen, die über immer weniger verfügen, entspricht auch die Polarisierung in der Welt.

"Normalität wird es für Flüchtlinge nie geben"

Sie sagten damals, vor sieben Jahren, weiter: "Das Maß an Hilfe und Aufmerksamkeit, das Adam und Evelyn zuteil wurde, ist für heutige Flüchtlinge schon unvorstellbar geworden." Welche konkreten Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Flüchtlinge in Normalität leben können und gar keine besondere Aufmerksamkeit mehr brauchen?

Wir hatten damals den Vorteil, dass der Ost-West-Konflikt im Mittelpunkt des Weltinteresses stand. Da war jeder Flüchtling aus dem Osten ein Punkt für den Westen. Die syrischen Flüchtlinge oder die afrikanischen Flüchtlinge sind im politischen Sinne uninteressant. Normalität wird es für Flüchtlinge nicht geben. Es muss nur alles versucht werden, dass Auseinandersetzungen ohne Waffen geführt werden. Krieg ist immer die schlechteste Option. Rüstungsexporte sind generell fragwürdig. Wir müssen lernen, in die Verlockungen des Friedens zu investieren. Aber das ist ja nicht neu.

In den 1980er-Jahren und seltener auch in den beiden Jahrzehnten zuvor ging es um Flucht von Ost nach West, die, wenn sie glückte, bejubelt wurde. Heute geht es um die Flucht aus Krisengebieten, von Süd nach Nord, und nicht um Landsleute. Die EU versucht, die Flüchtlinge aus Afrika oder dem Mittleren Osten fern zu halten. Legen wir in Sachen Menschenrechte unterschiedliche Maßstäbe an?

Ja, das tun wir. Ich wünschte, die Kriterien, die für Länder wie Kuba, Iran oder Russland gelten, würden ebenso nachdrücklich auch auf die USA, Saudi-Arabien oder Israel angewandt.

Nach dem Brandanschlag auf ein gerade für den Einzug von Asylbewerbern renoviertes Haus in Tröglitz fordern viele Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens ein klareres Asylrecht. Reicht das aus?

Brand in zukünftiger Asylbewerberunterkunft in Tröglitz
Für Asylbewerber renovierte, durch einen Anschlag ruinierte Unterkunft in TröglitzBild: picture-alliance/dpa/Schmidt

Es kommt darauf an, wie dieses Asylrecht aussieht. Wichtig finde ich, und das ist ja wohl auch so vorgesehen, dass das Geld vom Bund kommt, dass die Kommune nicht entscheiden muss zwischen Kindergarten oder Flüchtlingsheim. Das würde die Situation entspannen. Und dann kommt es halt auf jeden vor Ort an.

Die nationalsozialistische Vergangenheit, in der tausende Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle aus Deutschland fliehen mussten, hat dazu geführt, dass sich der deutsche PEN besonders für verfolgte Schriftsteller engagiert, indem er ausländische Kollegen durch sein Exil-Programm (Writers in Exile) unterstützt. Wie kann man ihnen eine Zukunftsperspektive geben?

Das sind ja Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin besser als keine Tropfen. Eine der Autorinnen im Exilprogramm sagte, den Begriff Zukunft gebe es nicht mehr für sie. Sie weiß nicht, was mit ihr in einem Jahr sein wird. Das Programm geht ja über drei Jahre. Der PEN kann nur Hilfe geben für den Anfang, er kann die Sprachausbildung unterstützen. Aber in jedem einzelnen Fall wird es anders. Für die einen eröffnet es eine neue Welt, für die anderen war es eher ein Aufschub vor der Katastrophe.


Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, lebt er als freier Autor in Berlin. Für "33 Augenblicke des Glücks" wurde er mit dem Alfred-Döblin-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet.

Das Interview führte Sabine Peschel.

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