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PolitikAsien

Iran: "Hinrichtungen als Racheakte"

12. Mai 2023

Die Zahl der Exekutionen im Iran ist drastisch gestiegen. Auf die Unterdrückung der landesweiten Proteste folge die Vergeltung, sagen Experten und Aktivisten.

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Symbolbild | Galgen und Schlinge
Seit Beginn des Jahres wurden mindestens 209 Menschen im Iran hingerichtet Bild: Allison Bailey/NurPhoto/picture alliance

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit Beginn des Jahres mindestens 209 Menschen im Iran exekutiert worden. Das sind im Durchschnitt mehr als zehn Menschen pro Woche. Die Zahl sei "erschreckend hoch" und eine der höchsten weltweit, erklärte UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk am Dienstag, 10. Mai. Die tatsächliche Zahl der hingerichteten Menschen ist nach Überzeugung der UN wahrscheinlich noch höher. Viele Familienangehörige der hingerichteten Menschen hätten Angst, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.

"Viele stehen auch unter Schock", sagt die Frauenaktivistin Fariba Balouch im Gespräch mit der DW. "Zuletzt wurden in Belutschistan innerhalb von neun Tagen mindestens 26 Menschen hingerichtet", berichtet sie weiter. "Diese Welle von Hinrichtungen stellt schlicht und einfach staatlich legitimierten Mord dar." Fariba Balouch wurde selbst in der ostiranischen Provinz Sistan Belutschistan geboren und ist dort aufgewachsen. Seit drei Jahren lebt sie im Exil in London und versucht, den Unterdrückten in ihrem Heimatland eine Stimme zu geben. "Den meisten Hingerichteten in Belutschistan werden Drogendelikte vorgeworfen. Die Todesstrafe für solche Vergehen verstößt gegen internationale Menschenrechtsnormen. Aus unserer Sicht rächt sich der Staat an uns wegen der anhaltenden Proteste in den letzten acht Monaten."

Die landesweiten Proteste, die das Land nach dem gewaltsamen Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini Mitte September 2022 erfassten, wurden brutal niedergeschlagen. In Sistan und Belutschistan aber gehen die Demonstrationen weiter. Dort versammeln sich noch immer jeden Freitag Menschen auf den Straßen und protestieren gegen das politische System. Die Mehrheit der Einwohner der Provinz sind Sunniten, im Gegensatz zum schiitisch geprägten Rest des Landes. Sie leiden darunter, dass die Zentralregierung sie systematisch benachteiligt. Die Provinz an der Grenze zu Pakistan und Afghanistan gilt als eine der ärmsten Regionen im Iran.

Angst vor einer neuen Protest-Welle

"Die Machthaber sind besorgt über eine mögliche neue Welle landesweiter Proteste aufgrund der politischen, aber auch wirtschaftlichen Situation im Land", berichtet Ribin Rahmani im Gespräch mit der DW. Rahmani, ein Kurde, der in London lebt und für ein Netzwerk von kurdischen Menschenrechtsaktivisten arbeitet, fügt hinzu: "Angehörige der Inhaftierten aus verschiedenen Teilen des Landes melden sich bei uns und berichten über die miserablen Bedingungen in den überfüllten Gefängnissen, die bereits ihre Kapazitätsgrenze erreicht haben. Hinrichtungen werden als Mittel zur Einschüchterung der Gesellschaft eingesetzt."

Das Justizsystem im Iran zeichnet sich weder durch Unabhängigkeit noch Transparenz aus. Es kommt häufig zu willkürlichen Festnahmen, erzwungenen Geständnissen und zu Druck auf Familienangehörige. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl verhängt der Iran weltweit die meisten Todesurteile. In absoluten Zahlen steht das Land nach China und vor Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien auf Platz zwei. Die Todesstrafe wird nicht nur für Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung verhängt. Auch Drogenhandel wird sehr häufig mit dem Tode bestraft. Und: Die Hinrichtung droht auch bei politischen "Straftaten".

Anfang Mai wurden zwei Personen hingerichtet, denen vorgeworfen wurde, "gotteslästerliche Beleidigungen gegen den Islam und den Propheten" über das Internet verbreitet zu haben. Todesurteile wegen Blasphemie wurden im Iran bisher äußerst selten vollstreckt. 

Hinrichtungen als Mittel der Einschüchterung 

"Die Hinrichtungen stehen in direktem Zusammenhang mit den Protesten", erklärt Saeid Dehghan im Gespräch mit der DW. Der Menschenrechtsanwalt lebt seit einigen Monaten in Kanada und versucht ein Netzwerk von Experten im Ausland aufzubauen, das Menschen im Iran Rat und Hilfe anbieten kann.

"Am Anfang jeder Protestwelle werden einige Menschen hingerichtet, um die anderen Protestierenden und ihre Familien in Angst und Schrecken zu versetzen. Nach der Niederschlagung der Proteste rächt sich der Staat an der Gesellschaft und versucht gleichzeitig seine eigene Basis zu stärken. Durch Hinrichtungen wegen angeblicher Blasphemie versucht er, konservative und religiöse Teile der Gesellschaft auf seine Seite zu ziehen. Die Hinrichtung von Personen, die Minderheiten angehören und denen Separatismus oder Verbindungen zu ausländischen Feinden vorgeworfen werden, soll Nationalisten zufriedenstellen. Auch die Hinrichtung des schwedisch-iranischen Staatsbürgers Habib Farajollah Chaab passt in dieses Muster."

Habib Farajollah Chaab war Anfang Mai hingerichtet worden. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, im Jahr 2018 als Anführer einer Separatistengruppe an einem Terroranschlag im Südwesten des Landes beteiligt gewesen zu sein, bei dem mehrere Menschen getötet und verletzt wurden. Chaab war im Jahr 2020 von iranischen Agenten in der Türkei festgenommen und in den Iran verschleppt worden. Verschleppt in den Iran wurde auch der Deutsch-Iraner Djamshid Sharmahd. Ende April bestätigte der Oberste Gerichtshof im Iran das umstrittene Todesurteil gegen ihn. Ein Revolutionsgericht hatte den 68-Jährigen im Februar unter anderem für einen Terroranschlag verantwortlich gemacht und ihm die Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten vorgeworfen.

"Was ich vermisse, ist die Solidarität und Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft. Dieses Schweigen ermutig die Machthaber, den Druck zu erhöhen", beklagt Saeid Dehghan und betont: "Die Menschen im Iran zählen auf uns."