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Irena Veisaite: "Man muss wissen, was passiert ist"

Cornelia Rabitz2. Dezember 2012

Sie wuchs auf mit der Liebe zur deutschen Literatur und Sprache. Heute ist sie Literaturwissenschaftlerin und eine führende Intellektuelle Litauens. Und eine Zeitzeugin der großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts.

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Irena Veisaite im Juli 2012 (Foto: DW/Isaiah Urken)
Bild: DW/Isaiah Urken

Irena Veisaite war dreizehn Jahre alt, als sie Schillers Balladen lernte und dessen wunderbare Worte über Treue und Freundschaft las: "Diese Worte haben mir damals Mut gemacht". Mut zum Überleben, den das Mädchen in den Jahren zwischen 1941 und 1944 dringend brauchte. Die klassischen Verse las Irena in der Untergrund-Schule im Ghetto Kaunas.

Angehaltene Zeit

Wir sitzen beim Tee am Tisch in Irenas Wohnung, umgeben von Büchern, die überall gestapelt liegen, von Gemälden, Fotos, Erinnerungsstücken. Sie ist eine der führenden Intellektuellen des Landes, liest und spricht neben ihrer Muttersprache Litauisch auch Russisch, Deutsch, Englisch, etwas Polnisch, Französisch und Estnisch. Sie liebt die Poesie Rainer Maria Rilkes, die Romane und Erzählungen von Thomas Mann, Franz Kafka, Hermann Hesse, liest historische und politische Literatur. Ihre Wohnung atmet förmlich Geschichte. An diesem Spätsommernachmittag im Jahr 2012 ist die Vergangenheit das Thema. Wenn die Wissenschaftlerin mit leiser Stimme spricht scheint die Zeit stehen zu bleiben: "Ich habe immer gedacht, ich muss überleben, um der Welt zu berichten, was geschehen ist." Und sie erzählt.

Das Glück des Tages

Es war keine richtige Schule, damals im Ghetto. Zeit für regelmäßigen Unterricht war nicht vorgesehen. Denn auch die Kinder mussten für ein Stück Brot arbeiten, draußen, jenseits des Stacheldrahts, oder im Ghetto, wo die SS ab 1942 Werkstätten eingerichtet hatte. Nur die Allerjüngsten wurden von Zwangsarbeit verschont. Buchstäblich bis zum Umfallen schuftete Irena am Flughafen der Stadt, erst nachdem sie schwer erkrankt war wurde die 13jährige in einer Werkstatt im Ghetto eingesetzt. "Es war eine sehr, sehr schlimme Zeit. Ich hatte immer Angst, umgebracht zu werden und war schrecklich hungrig. Ständig gab es so genannte Aktionen mit Verhaftungen und Erschießungen. Wenn man am Ende eines Tages noch am Leben war, dann war es gut."

Grab ohne Ort

Nach dem Einmarsch von Wehrmacht und SS in Litauen, im Juni 1941, musste die 13jährige mit ihrer Tante und den Großeltern ins Ghetto Kaunas umsiedeln. Der Vater lebte damals schon getrennt von der Familie in Westeuropa, die Mutter hatte man unmittelbar nach einer schweren Operation vom Krankenbett weg verhaftet: "Ich konnte sie noch ein Mal im Krankenhaus sehen und ihr ein Mal Essen ins Gefängnis bringen", erzählt Irena. Ihre Mutter habe ihr im letzten Gespräch drei Gebote als eine Art Vermächtnis hinterlassen. Sie solle selbständig sein, mit der Wahrheit leben und nie aus persönlichen Gründen Rache nehmen: "Ich erinnere mich noch genau an ihre Worte, aber den Sinn habe ich wohl erst später verstanden."  Ein paar Tage danach ist die Mutter schon nicht mehr da – weg gebracht und getötet in einer der historischen Festungsanlagen, die die Stadt Kaunas umgeben und die nun zur Grabstätte für zehntausende Juden aus ganz Europa werden sollten.

Kinder in einer Untergrundschule im Ghetto Kaunas (Foto: Litauisches Zentrales Staatsarchiv)
Lernen unter Todesgefahr: Die Ghettoschule in KaunasBild: Litauisches Zentrales Staatsarchiv/Lietovos centrinis valstzbes archyvas

Flucht aus dem Ghetto

Freunde ihrer Eltern machen das Mädchen im Ghetto ausfindig und organisieren ihre Flucht. Bald schon lebt sie mit falschen Papieren als angebliche Waise vom Land bei einer litauischen Familie in Vilnius – ein Leben, das Sicherheit freilich nur vorspiegelt. Sie spricht fließend litauisch, ohne den sonst typischen jüdischen Akzent und dennoch: Gefahren lauern überall und ein falsches Wort kann dramatische Folgen haben. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen und für Irena muss eine andere Bleibe gesucht werden. Die Familie Ladigiene nimmt sie auf, als ein siebtes zu den sechs Kindern, die sie bereits hat: "Stefania Ladigiene wurde meine zweite Mutter. Ich bin dort bis lange nach dem Krieg geblieben – ich hatte ja niemanden mehr. Inzwischen bin ich sogar in den Stammbaum aufgenommen und als Familienmitglied anerkannt worden!" erzählt Irena und sieht sehr glücklich dabei aus.

Die zweite Diktatur

Im Sommer 1944 endet die Schreckensherrschaft der Nazis, sowjetische Streitkräfte marschieren ein: "Für mich war es eine Befreiung, als die Rote Armee kam", sagt Irena heute. Sie kann wieder zur Schule gehen, lesen, lernen. Doch das Gefühl der Freiheit ist trügerisch. Bald schon legen sich die Schatten einer zweiten  Besatzung auf das kleine Land, das nun Sowjetrepublik wird. Ihre Pflegemutter wird verhaftet, nach Sibirien verschleppt und kommt, gezeichnet von schwerer Krankheit, nach zehn Jahren von dort zurück. Und es beginnt die große Enttäuschung für die wenigen Juden, die den Genozid überlebt haben. Niemand habe sich dafür interessiert, sagt Irena Veisaite. Tabuisiert, verschwiegen, beschönigt: In der Sowjetrepublik Litauen sprach man nur von sowjetischen Opfern des Faschismus. Und schon bald wuchs unter dem Stalin-Regime ein neuer Antisemitismus heran, wurden so genannte jüdische "Kosmopoliten", Ärzte und Intellektuelle verfolgt: "Die Sowjets waren sehr, sehr schlimm. Anders als die Nazis, aber nicht besser".

Den Anfeindungen trotzen

Zum Studium geht Irena Veisaite dennoch nach Moskau – der sowjetische Geheimdienst in Litauen hatte versucht, sie als Agentin anzuwerben und Druck auf sie ausgeübt. Vergeblich: "Ich blieb ganz ruhig. Ich war sicher, dass ich nie ein Informant für sie werden würde. Und ich wäre sogar bereit gewesen dafür nach Sibirien deportiert zu werden." Sie hat Glück, man zwingt sie, über den Anwerbeversuch zu schweigen und lässt sie laufen. An der Moskauer Universität bekommt die begabte, fleißige Studentin zunächst die besten Noten – bis ihr familiärer Hintergrund bekannt wird. Als Tochter eines im kapitalistischen Ausland lebenden "Bourgeois" und als Jüdin ist sie nun verdächtig, ein Lermontov-Stipendium wird ihr entzogen, die Noten herabgestuft. Irena beißt sich durch, promoviert, schafft es sogar gegen alle Widerstände, zurück nach Vilnius und an die dortige Universität zu kommen, wo sie schließlich viele Jahre lang Literatur und Theatergeschichte lehren wird.

Irena Veisaite in ihrem Arbeitszimmer (Foto: DW/Isaiah Urken)
Bücher, Bilder, Erinnerungen: Das Arbeitszimmer von Irena VeisaiteBild: DW/Isaiah Urken

Zeugnis ablegen

Als Litauen 1990 unabhängig wird ist Irena Veisaite 62 Jahre alt. Sie hat zwei Diktaturen erlebt und überlebt und ist nun eine Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts – auch wenn es lang gedauert hat, bis sie endlich über ihre Geschichte und die der vielen anderen jüdischen Verfolgten sprechen durfte. Und dennoch schmerzt es sie, dass immer noch aufgerechnet wird, dass es Streit gibt  über die zwei Vergangenheiten ihres Heimatlandes, dass die Kollaboration eines Teils ihrer litauischen Landsleute mit den Nazi-Besatzern ein heikles Thema geblieben ist – und dass das Leiden der Juden trotz aller Bemühungen von Regierung, Historikern und Museen noch zu wenig gesellschaftliche Anerkennung findet.

Schuldzuweisungen und Rachegefühle aber sind sinnlos, das hat die Wissenschaftlerin gelernt. Dennoch: "Man muss wissen, was passiert ist", betont sie. Wissen, damit Fehler und Verbrechen nicht noch einmal passieren, wissen, wo die Gefahren lauern, wissen, wie zerbrechlich Moral, Kultur und Menschlichkeit unter bestimmten Umständen sein können. Deutschland und sein Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ist für Irena Veisaite inzwischen ein Vorbild. "Man versucht nicht, sich zu rechtfertigen. Man erkennt alles an. Man zahlt noch immer Geld für diejenigen, die gelitten und alles verloren haben. Das achte ich sehr."