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Israel-Hamas-Krieg: Verschwunden in Gaza

19. Juni 2024

Verhaftet? Getötet? Oder nur das Telefon verloren? In den Kriegswirren vermissen tausende palästinensische Familien im Gazastreifen Angehörige - und suchen mit allen Mitteln nach ihnen. Oft erfolglos.

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Zwei Jungen laufen im Gazastreifen durch eine Trümmerlandschaft
Zerstörungen in der Stadt Dschabalia im Norden des GazastreifensBild: Mahmoud Issa/Middle East Images/picture alliance

Seit Wochen sucht Muhammad Anza nach seinem Onkel Ibrahim Al-Shaer. Er gilt seit Anfang Mai als vermisst in Rafah, im Süden des Gazastreifens. "Wir haben nichts mehr von ihm gehört seit diesem Tag," sagt der 19-jährige Anza der DW per Telefon aus Gaza. "Wir sind in großer Sorge. Wir wollen wissen, wo er ist. Wir wollen wissen, ob er tot ist, damit wir ihn bestatten und um ihn trauern können. Oder ob er möglicherweise [vom israelischen Militär] festgenommen wurde."

Al-Shaer und seine Familie wurden am 6. Mai von der israelischen Armee aufgefordert, ihr Haus im Osten Rafahs zu evakuieren. Kurz danach begann eine israelische Offensive auf die Stadt, um gegen die militante Hamas vorzugehen. Anza sagt, sein Onkel sei einige Tage später in die Gegend zurückgekehrt, um nach dem Haus zu schauen und einige Sachen zu holen, die sie auf die Schnelle nicht hatten mitnehmen können. 

Geflohene Palästinenser vor einer Notunterkunft im Flüchtlingslager Nuseirat
Geflohene Palästinenser vor einer Notunterkunft im Flüchtlingslager NuseiratBild: Evad Baba/AFP

Die Familie, so Anza, habe in Krankenhäusern nach ihm gesucht und bei Nachbarn gefragt, die etwa zur gleichen Zeit im Viertel waren. Zwar gab es in der Zeit Luftangriffe auf Häuser, bei denen es Tote und Verletzte gab, aber deren Namen wurden von den Rettungsdiensten veröffentlicht. Sein Onkel war nicht darunter

"Wir haben die Polizei, das Rote Kreuz und die lokalen Behörden kontaktiert, aber wir wissen nicht, wo er ist. Niemand weiß etwas", sagt Anza. Die Familie hat nun, wie viele andere auch, ein Foto und eine Beschreibung der Umstände von Al-Shaers Verschwinden in den sozialen Medien veröffentlicht. Sie wissen nicht, an wen sie sich noch wenden könnten. 

Tausende nicht identifizierte Leichen

Nach fast neun Monaten Krieg zwischen Israel und der islamistischen Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, gelten in der palästinensischen Enklave offenbar Tausende von Menschen als vermisst. Viele wurden nach Luftangriffen unter den Trümmern begraben und konnten noch nicht geborgen werden. Andere wurden vermutlich an israelischen Kontrollpunkten zwischen dem Norden und dem Süden Gazas festgenommen. Die genaue Zahl der Vermissten ist zwar nicht bekannt, aber das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat seit Beginn des Konflikts 6500 Vermisstenfälle im Gazastreifen registriert.

Angehörige trauern inmitten von Leichensäcken
Tote in einer Leichenhalle Ende Mai in RafahBild: Jehad Alshrafi/dpa/picture alliance

"Seit dem 7. Oktober haben wir Hotlines eingerichtet, über die Menschen uns anrufen können, wenn sie Angehörige haben, die aus irgendeinem Grund vermisst werden. Zum Beispiel weil sie angeblich inhaftiert oder verhaftet wurden, wenn sie bei Evakuierungen getrennt wurden, wenn sie verwundet oder getötet worden sein könnten", sagt Sarah Davies, Sprecherin des IKRK in Jerusalem.

Selbst die Getöteten, die geborgen und zur Leichenhallen gebracht werden, sind nicht immer zu identifizieren. Mit Stand vom 10. Juni konnten nach Angaben des Hamas-kontrollierten Gesundheitsministeriums 9839 Leichen noch nicht zugeordnet werden. Mehr als 27.000 Tote sollen bislang namentlich bekannt sein.

Im jüngsten Krieg zwischen Israel und der Hamas, die von den USA, der EU und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, sind im Gazastreifen bisher mehr als 37.000 Palästinenser getötet worden, teilte das Ministerium weiter mit. Die Zahl unterscheidet nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten.

Luftaufnahme der Trümmer eines zerstörten Hauses
Vielfach ist unbekannt, wie viele Menschen unter Trümmern begraben sindBild: Evad Baba/AFP

Nach Angaben der israelischen Verteidigungskräfte (IDF) wurden seit dem blutigen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober mindestens 650 Soldaten getötet, 298 davon seit Beginn der Bodenoperation im Gazastreifen Ende Oktober 2023.

Rotkreuz-Sprecherin Davies sagt, die Suche nach den Vermissten sei aufgrund der Situation im Gazastreifen äußerst schwierig. "Wir haben zwar umfangreiche Erfahrungen mit der Suche in Kriegsgebieten, aber im Moment ist eine aktive Suche unmöglich", sagte sie. Normalerweise klopft das Rote Kreuz an die Wohnungstüren von Vermissten-Familien und stellt Fragen. "Aber im Gazastreifen haben viele Menschen gar keine Türen mehr", so Davies, "Und sie werden ständig umgesiedelt und wieder vertrieben".

Verlorene Telefone und wenig Kommunikation

Schwache Kommunikationsleitungen und verlorene Telefone machen es manchmal noch schwerer, die Menschen zu erreichen. Das IKRK hat fünf Hotline-Mitarbeiter im Gazastreifen, die grundlegende Informationen von Menschen aufnehmen, die nach ihren Angehörigen suchen, beispielsweise, wo sie zuletzt gesehen wurden. Ein Suchspezialist ruft dann die Familien zurück und versucht ein Dossier zusammenzustellen.

"Die Hotline-Mitarbeiter hören die Geschichten der Familien, es ist mitunter herzzerreißend", sagte Davies. "Einige haben mehrere Familienmitglieder verloren oder wurden von mehreren Mitgliedern derselben Familie getrennt. Und man weiß nicht, ob das daran liegt, dass sie unter Trümmern liegen. Oder weil sie ihr Telefon oder ihre SIM-Karte verloren haben und ihre Familie sie deshalb nicht erreichen kann. Oder ob sie sich einfach in einem Gebiet ohne Verbindung und ohne Internet befinden und es ihnen eigentlich gut geht." Die Namen der Vermissten werden mit den Listen der wenigen noch funktionierenden Krankenhäusern und mit Listen der von Israel freigelassenen Gefangenen abgeglichen.

Eine Gruppe läusft durch das Flüchtlingslager Maghazi
Ein Großteil der Palästinenser im Gazastreifen musste vor den Kämpfen und Luftangriffen fliehenBild: Marwan Dawood/Xinhua/IMAGO

In den vergangenen Wochen sind Berichte israelischer Menschenrechtsorganisationen und Whistleblower über schwere Misshandlungen in der Haftanstalt Sde Teiman im Süden Israels aufgetaucht. Die Palästinenser werden auf der Grundlage einer Gesetzesänderung festgenommen, die die Knesset im Dezember 2023 verabschiedet hat und die es dem israelischen Militär erlaubt, mutmaßliche Kämpfer zu verhaften. In einigen Fällen erweisen sich die Anschuldigungen als unwahr, und die Menschen werden nach Wochen in Haft nach Gaza zurückgeschickt.

"Es gibt niemanden, den man fragen kann. Viele der Suchanfragen stammen von Familien, die nicht einmal wissen, ob ihr Angehöriger inhaftiert oder getötet worden ist oder aus anderen Gründen vermisst wird", sagt Jessica Montell von der israelischen Menschenrechtsorganisation HaMoked. Israel, fügt sie hinzu, "weigert sich, Vermisste in Gaza aufzuspüren, entgegen seiner bisherigen Praxis und seiner rechtlichen Verpflichtung".

Die DW hat sich an die israelische Militärführung gewandt mit der Bitte, sich zu den Vorwürfen zu äußern, die Armee halte Personen in Gaza fest, ohne deren Angehörige zu informieren. Unsere Anfrage blieb bisher unbeantwortet. 

Suche nach dem Bruder

Mohammed al-Madhoun sucht seinen Bruder Khalil, einen 47-jährigen ehemaligen Mitarbeiter der palästinensischen Autonomiebehörde in Gaza, der mit seiner verwitweten Schwester aus dem nördlichen Gazastreifen nach Chan Junis vertrieben wurde. Das war zu Beginn des Krieges.

"Seine Frau und eines seiner drei Kinder sind im Norden geblieben. Er vermisste sie sehr und hat versucht, in den Norden zurückzukehren, obwohl er wusste, dass dies gefährlich war", sagt Al-Madhoun. "Am 18. Mai habe ich ihn dann nicht mehr in dem Zelt gefunden, in dem er neben uns untergebracht war."

Israelische Soldaten im Flüchtlingslager Al-Faraa nahe Tubas im Gazastreifen
Israelische Soldaten im Flüchtlingslager Al-Faraa nahe Tubas im GazastreifenBild: Mohammed Nasser/IMAGO

Khalils Mobiltelefon ist seither abgeschaltet. Auch die Suche in Krankenhäusern und beim Roten Kreuz hat keine Informationen ergeben. Die Familie wandte sich an die sozialen Medien, aber abgesehen davon, das ihn jemand in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens gesehen haben will, gab es keine weitere Spur von Khalil.

Al-Madhoun vermutet, dass sein Bruder versucht hat, in den nördlichen Gazastreifen zurückzukehren und entweder vom israelischen Militär an einem Kontrollpunkt festgenommen oder unter unbekannten Umständen getötet wurde. "Wir sind ständig in Unsicherheit, wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist. Und niemand hat eine Antwort. Wir hoffen einfach nur, dass er noch am Leben ist", sagt Al-Madhoun.

Das Schmerzlichste in Konfliktgebieten auf der ganzen Welt sei die Ungewissheit über das ungeklärte Schicksal von Angehörigen, so Sarah Davies. "Es geht nicht nur darum, dass man sein Haus verliert, nicht zu essen hat oder nicht weiß, woher man Wasser bekommt", sagt sie. "Es geht auch darum, von Familienmitgliedern getrennt zu sein, ohne zu wissen, was mit ihnen passiert ist. Vielleicht sind sie noch am Leben, und man hält an dieser Hoffnung fest. Aber man denkt auch an den schlimmsten Fall. Alles bleibt im Ungewissen."

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin