Immer weiterarbeiten, auch jenseits der 80
12. November 2015Mit Leichtigkeit steigt Joshio Ozaki die Treppen seines Hauses hoch. Sein Gang ist federnd. Wenn man hinter ihm hergeht, würde man nicht denken, dass er schon 87 Jahre alt ist. Auch nicht, wenn man ihn dabei beobachtet, wie er sich geschickt durch die wenigen Freiräume seiner Werkstatt bewegt, auch wenn er etwas gebeugt geht. Jeder Zentimeter des winzigen fensterlosen Raumes ist belegt. Überall sind Regale an den Wänden angebracht, auf den Tischen liegen Werkzeuge, Schrauben und Bauteile, auch viele Bildschirme und Videorecorder.
Sie erzählen die Geschichte eines Lebens, zeugen von der Technikbegeisterung des Bewohners. Was für ein Mensch Joshio Ozaki ist, verraten sie dagegen nicht. Das lassen eher seine Augen erahnen. Die lächeln die ganze Zeit. Ozaki freut sich über den Besuch und darüber, von sich zu erzählen: Er ist Erfinder und Ingenieur, er besaß einmal ein Geschäft für Fernsehreparaturen. Das war, bevor er die erste japanische Fernsehkamera baute, dann für mehrere Jahre in die USA ging und dort bei Sony Pictures in Kalifornien arbeitete. "Dort habe ich mich zuerst eher gelangweilt, weil ich nur kaputte Fernseher reparieren musste", erzählt er. Doch dann schrieb er einen Brief an den Sony-Manager. Dieser wusste von Ozakis Leistungen in Japan. "Er hat mich dann in die Sony-Labors eingeladen. Das war der Wendepunkt."
"Arbeiten ist mein Hobby"
Trotzdem kehrte Yoshio Ozaki Anfang der 1960er Jahre Amerika wieder den Rücken zu und ging nach Japan zurück. Er lebt mit seiner Frau am östlichen Stadtrand von Tokio, die beiden Kinder haben längst eigene Familien. In den vergangenen Jahrzehnten entwickelte Ozaki mehr als 100 Patente, die alle mit Fernseh-Technik zu tun haben.
Arbeitende Senioren sind in Japan keine Seltenheit. Im Gegenteil. Die Mehrheit der Menschen will weiter arbeiten - allein schon, weil die Rente allein nicht zum Leben reicht. Und auch die Regierung hat ein Interesse daran. Denn aufgrund der schnell vergreisenden Gesellschaft werden dem Land zunehmend qualifizierte Fachkräfte fehlen.
Die Unternehmen sind mittlerweile verpflichtet, ihre Mitarbeiter auch nach dem Eintritt ins Pensionsalter beim Weiterarbeiten zu unterstützen. Vor zweieinhalb Jahren wurde außerdem das offizielle Rentenalter von 60 auf 61 Jahre erhöht. Bis 2025 wird es weiter steigen: auf dann 65 Jahre.
Eigentlich schickt auch Sony seine Mitarbeiter mit 60 in Rente. Doch als Ozaki 60 wurde, steckte er gerade mitten in der Entwicklung des ersten digitalen Ton-Aufnahmesystems des Unternehmens. Man wollte ihn nicht gehen lassen, Ozaki blieb sogar neun weitere Jahre im Dienst des Unternehmens. Mit fast 70 ging er schließlich in den Ruhestand. Aber nur offiziell. Denn er arbeitet weiter. "Ich mag es einfach zu tüfteln" sagt er und zuckt fast entschuldigend mit den Schultern. Er habe halt einfach viel Energie, erklärt er. Und finanziell hat er ausgesorgt. "Ich habe eine gute Rente, ich muss kein Geld dazuverdienen. Es ist einfach eine Leidenschaft, die treibt mich immer weiter an."
Eine Frau für historische Fragen
Dieser Satz hätte auch von Amano Takako stammen können. Denn auch sie kann nicht von ihrer Arbeit lassen, liebt ihren Job bei NHK, dem landesweiten öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender. Seit über 30 Jahren arbeitet die heute 87jährige dort freiberuflich als Beraterin für Fernsehserien. Serien, die in der Vergangenheit spielen. Takako sucht Antworten auf Fragen wie: Welche Farben trug man in den 30er Jahren, welche Stoffe und Muster galten als modern? Teilweise kennt sie die Antworten aus eigener Erinnerung, teilweise recherchiert sie sie aufwendig in Bibliotheken oder im Nationalarchiv, dafür erhält sie ein Honorar.
Die zierliche Frau wartet schon an der Straßenecke. Sie trägt einen Kimono und winkt von weitem. Dann lädt sie in ihr Wohnzimmer ein. Auf dem Tisch liegen mehrere Drehbücher von NHK, die sie zum Gegenlesen bekommen hat. "Meistens enthalten die ersten Entwürfe einige Fehler oder Ungenauigkeiten", erzählt sie. Diese werden dann mit den zuständigen Redakteuren besprochen, bis das Ergebnis stimmt.
Die vergreisende Gesellschaft
Yoshio Ozaki und Amano Takako haben für sich eine Lösung gefunden, wie sie ihre Tatkraft auch im hohen Alter in sinnvolle Beschäftigung lenken können. Und sie sind keine Einzelfälle in Japan. Aber trotz solcher Erfolgsgeschichten wird sich Japans Bevölkerungsproblem in der Zukunft noch dramatisch verschärfen. Das ostasiatische Land hat die älteste Bevölkerung der Welt, Zuwanderung gibt es kaum und es werden viel zu wenige Kinder geboren.
Wenn sich nichts Grundlegendes ändert, wird die Zahl der Gesamtbevölkerung von heute 127 Millionen offiziellen Schätzungen des Gesundheits- und Sozialministeriums zufolge bis 2060 um ein Drittel schrumpfen. Gleichzeitig wächst der Anteil der Alten dramatisch an, auf dann vierzig Prozent, so die Prognose.
Kein Gedanke ans Aufhören
Amano Takako holt ein Heft aus dem Regal hinter der Couch. Auf dieses Heft ist sie ganz besonders stolz. Es ist kein Drehbuch, sondern ein in sorgfältiger Handschrift ausgefülltes Heft, das ihr schon viele gute Dienste erwiesen hat. Geschrieben hat es ihre ältere Schwester. Es ist ein Haushaltsbuch, in dem die Schwester sämtliche Ausgaben der Familie aufgelistet hat. "Darin stehen also die damaligen Preise für Lebensmittel, Drogerieartikel oder Medikamente. Ich schaue da immer nach, wenn ich konkrete Angaben benötige."
Takako ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder. Ihr Mann ist pensioniert, "er ist jetzt gewissermaßen mein Taxifahrer, fährt mich immer mit dem Auto zum Sender", erzählt sie lachend. Sie selbst möchte aber weiter arbeiten, so lange es geht. "Sonst würde ich mich langweilen." Auch auf den ständigen Kontakt mit den Kollegen möchte sie nicht verzichten.
Diesen Kontakt hat Yoshio Ozaki nicht mehr. In den ersten Jahren nach seiner Pensionierung meldete sich Sony regelmäßig bei ihm, zum Beispiel, wenn es um eines seiner Patente ging. Mittlerweile ist es deutlich ruhiger geworden. "Jetzt bekomme ich nur noch jedes Jahr im Dezember eine Einladung zur Silvester-Party." Aber das, so sagt er, sei für ihn in Ordnung. Er tüftelt einfach für sich weiter, in seiner kleinen Werkstatt, in der es zwar keinen Platz gibt, aber dafür viele Geschichten.