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Politik

Jesidin erkennt die Mörderin ihrer Tochter

18. Juli 2019

Im Prozess um die IS-Rückkehrerin hat die Mutter des verdursteten Mädchens Jennifer W. identifiziert. Bevor sie sich festlegte, hatte sie nur "Ähnlichkeiten" festgestellt. Weltweit schauen Jesiden auf den Prozess.

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Deutschland München | Prozess Jennifer W., IS-Rückkehrerin
Bild: Getty Images/S. Widmann

Drei Tage zog sich die Befragung hin. Dann, am Morgen des vierten Tages fordert Richter Reinhold Baier endlich Nora T. auf, den Kopf nach links zu drehen und sich "die Dame dort einmal genau anzuschauen". Die Dame, gerade einmal drei Meter entfernt, ist die Angeklagte Jennifer W., eingerahmt von ihren Anwälten. Nora T. soll sagen, ob die 28-jährige aus dem niedersächsischen  Lohne die Frau ist, deren Mann ihre fünfjährige Tochter in der Hitze des irakischen Sommers in der prallen Sonne an die Gitter eines Fensters band. So lange, bis das Mädchen verdurstet war. Ohne dass die IS-Anhängerin etwas zur Rettung des Kindes unternahm. Die kleine Frau mit dem braunen Kopftuch und dem schwarzen Kleid, die viel älter aussieht als ihre 47 Jahre, schaut zum ersten Mal in diesem Prozess Jennifer W. an, lange, sorgfältig. Aber sie mag sich nicht festlegen. "Sie sieht ihr ähnlich", bleibt Nora T. vage.

"Ich erkenne sie an ihren Augen und ihren Haaren"

Als Nora T. nach einer kurzen Unterbrechung der Verhandlung wieder in den Gerichtssaal kommt, ist sie sich sicher. Sie nimmt Jennifer W. noch einmal genau in Augenschein. Dann erklärt sie: "Sie ist es, ich habe sie an ihren schwarzen Augen und an ihren schwarzen Haaren erkannt".

Die frühere Dschihadistin nimmt die Worte der Jesidin ohne jede Regung zur Kenntnis. An diesem 13. Verhandlungstag ist die Angeklagte gekleidet wie immer im Gerichtssaal. Mit ihrem schwarzen Jacket, dem streng  zurückgebundenen Haar und der schwarzen Kunststoffbrille erinnert sie an eine angehende Bankkauffrau.

Deutschland München | Prozess Jennifer W., IS-Rückkehrerin
Die IS-Rückkehrerin Jennifer W. und ihre Anwälte Seda Basay-Yidiz und Ali AydinBild: Getty Images/S. Widmann

Man kann sich kaum vorstellen, dass dieselbe Jennifer W. noch im letzten Sommer alles dafür tat, ins untergehende Kalifat des sogenannten "lslamischen Staates" zurückzureisen. Mitten hinein ins Kriegsgebiet, zusammen mit ihrer gerade einmal zweijährigen Tochter. Auf dem Weg dorthin stieg sie  ins verwanzte Auto eines verdeckten Ermittlers der Polizei. Ihm erzählte sie unterwegs von ihrem Leben beim IS, bevor sie Anfang 2016 nach Deutschland zurückgekehrt war. Sie erzählte von ihrem Leben im irakischen Falludscha, von ihrer Arbeit bei der Religionspolizei Hizba – und vom Tod einer fünfjährigen Kindersklavin, die ihr Mann zur Strafe in der sengenden Sonne festgebunden hatte.

Vor allem auf diesen Aussagen basierte die Anklage, die erste in Deutschland gegen eine IS-Rückkehrerin. Dann machte die jesidische Hilfsorganisation Yazda die vermeintliche Mutter des Mädchens in einem Flüchtlingscamp im Irak aus. Jetzt ist Nora T. in Deutschland, als Nebenklägerin und Zeugin, begleitet von Personenschützern. Sie ist die wichtigste Zeugin der Anklage.

Eine besondere Zeugin

Nora T.  ist aber auch eine besondere Zeugin. Es gibt kulturelle und sprachliche Barrieren. Und sie ist schwer traumatisiert. Die Probleme beginnen schon bei der Übersetzung aus dem kurdischen Kurmandschi.  Am 3. Vernehmungstag wollen die Anwälte von  Nora T. einen weiteren Übersetzer hinzuziehen. Es habe missverständliche Übersetzungen gegeben, behaupten sie. Nora T. verstehe manchmal die Fragen falsch. Jesidische Prozessbeobachter im Zuschauerraum hätten sie darauf hingewiesen. Die Übersetzerin spreche einen anderen kurdischen Dialekt als die Zeugin. Eine längere Diskussion entbrennt. Am Ende weist das Gericht die Forderung der Anwälte der Nebenklage zurück.

In den Fängen des IS

Fakt ist: Richter Baier muss sich durch behutsames Fragen und beständiges Nachfragen sehr geduldig an die Ereignisse der Jahre 2014 und 2015 herantasten. Die Zeugin hat nur vier Jahre die Schule besucht, sie ist eine einfache Frau. Lesen, Rechnen hat sie nicht gelernt; Uhrzeiten und abstrakte Fakten bereiten ihr Probleme. Ihre Lebens- und Vorstellungswelt ist weit von der eines deutschen Gerichtssaals entfernt. Immer wieder kommt es zu Missverständnissen. Immer wieder wird sie auf Widersprüche angesprochen. Immer wieder sagt sie an diesen Tagen: "Ich sage nur die Wahrheit und das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe". Die Anwälte von Jennifer W. jedenfalls registrieren ihre Widersprüche sorgfältig.

Mutter und Tochter - eine Odyssee des Grauens

Trotz aller Schwierikeiten entsteht über die Tage der Befragung ein Bild. Ein Bild, das über Nora T. und ihre Tochter hinausgeht und das Schicksal der Jesiden insgesamt plastisch macht. Die religiöse Minderheit im Nordirak wurde im Sommer 2014 Opfer eines Völkermordes durch die Hand des IS. Männer wurden ermordet, Frauen und Kinder versklavt. Weil sie in den Augen des IS "Teufelsanbeter" sind, noch nicht einmal des minimalen Schutzes würdig, den Christen und Juden als Angehörige der Religion des Buches genießen.

Symbolbild: Jesiden auf der Flucht
Jesiden auf der Flucht vor dem IS im NordirakBild: picture-alliance/AP/K. Mohammed

Nora T. berichtet von der Ermordung ihrer Angehörigen. Davon, wie der IS ihr beide Söhne entriss und sie nur einen von ihnen wiederfand. Wie sie mit ihrer Tochter versklavt und immer wieder verkauft wurde. Bis beide im Haushalt von Abu Muawia und seiner Frau landeten – der Frau, die nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft Jennifer W. ist. Es ist eine Geschichte von Demütigungen, Vergewaltigungen, Schlägen, Mord – und von Schmerzen, die nie vergehen. "Immer wenn ich von meiner Tochter spreche, habe ich Schmerzen in der Brust", sagt Nora T. an einer Stelle. Sie spricht von ihrer Tochter immer mit dem Namen, den Abu Muawia ihr gab, um ihre jesidischen Wurzel zu zerstören: Rania.

Keine Antwort aufs Warum

Nora T. berichtet von endlosem Putzen, Spülen, Waschen und davon, dass sie selbst keine Seife bekam, um sich und ihre Tochter zu waschen. Sie berichtet, immer wieder als "Ungläubige" beschimpft worden zu sein – obwohl sie unter Todesdrohung zum Islam konvertiert war, mit der Hausherrin betete und im Ramadan fastete. Ihre Zähne habe sie wegen der Schläge verloren, sagt sie einmal. Vielleicht kann man sie auch deshalb so schlecht verstehen. Sie kann zwar erzählen, wie Abu Muawia ihre Tochter mit einem braunen Kabel in der Sonne festband, bis sie starb. Aber auf die wiederholten Fragen des Richters, warum das Mädchen überhaupt bestraft wurde, weiß sie keine Antwort.

Auch weil sich die Befragung von Nora T. so schwierig gestaltet, hat der Richter mittlerweile fünf weitere Verhandlungstage angesetzt, bis in den November hinein. Vielleicht wird dann sogar Taha A. als Zeuge auftreten. Die Bundesanwaltschaft glaubt, Taha A. und Abu Muawia sind ein und dieselbe Person. Der irakische Mann von Jennifer W. wurde Anfang Mai in Griechenland festgenommen. Gegen den mutmaßlichen Mörder der kleinen Rania läuft ein Auslieferungsantrag.

Und vielleicht wird Nora T. auch ihn wiedererkennen.

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein