Joachim Gauck: "Die Sprache der Freiheit ist Polnisch"
28. August 2020DW: Am 12. März 2012 wurden Sie, ein ehemaliger Oppositioneller und Staatsbürger der DDR, zum Bundespräsidenten des wiedervereinigten Deutschlands gewählt. "Was für ein Tag!" - das waren Ihre Worte damals. Wäre dieser Tag ohne Solidarnosc denkbar gewesen?
Joachim Gauck: Das ist eine der Fragen, die man sich hüten sollte, zu beantworten. Aber wenn Sie mich nach der Rolle und der Bedeutung von Solidarnosc fragen, dann würde ich sagen: Die ist wirklich unglaublich groß und wird immer noch von manchen Menschen unterschätzt. Tatsächlich ist das Entstehen von Solidarnosc und das Überleben von Solidarnosc trotz Kriegsrecht eigentlich eines der großen, ermutigenden Exempel für die Geschichte von Emanzipation und Befreiung von Unterdrückten. Und deshalb hat natürlich alles, was wir 1989 in Mitteleuropa veranstaltet haben, auch damit zu tun, dass wir ermutigt worden sind von den Menschen in Polen, die früher als andere angefangen haben, daran zu glauben, dass wir ein ganz festgefügtes Machtsystem möglicherweise doch in Frage stellen oder sogar zu Ende bringen können.
Im Jahr 1979 wird der Pole Karol Wojtyla zum Papst gewählt. Wurde Ihnen damals die politische Dimension dieser Wahl bewußt?
Aber sofort. Wir wussten, dass jeder Oppositionelle im Ostblock gestärkt werden würde durch diese Wahl. Und dann die Besuche des polnischen Papstes in seiner Heimat, in der Zeit des Kommunismus: Das waren ja solche Demonstrationen von einer demokratischen Gegenkultur und einer lebendigen Religiosität. Das war ja einfach umwerfend. Und nun Protestant oder nicht, man war einfach begeistert davon, dass das in unserem Nachbarland geschehen konnte. Uns hat der Mut dieses Mannes imponiert, und seine Worte "Fürchtet euch nicht". Das war doch eine ganz gewaltige Botschaft, dass man trotz aller Machtmittel der Herrschenden auf Veränderung hoffen dürfe.
DW: Erinnern Sie sich an den August 1980 vor genau 40 Jahren, an die Streiks und Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft, an diesen Prozess? Wie haben Sie darauf reagiert: mit Begeisterung, Skepsis oder Angst?
Mit Begeisterung und Skepsis. Ich kannte den kommunistischen Machtapparat. Wir in der DDR waren ja sehr früh aufgestanden gegen das Regime - am 17. Juni 1953, wo es massenhaft Protestaktionen gegen das Regime gegeben hat, für Demokratie, für Wiedervereinigung und dergleichen mehr. Und der Kommunismus hat sehr brutal mit sowjetischen Panzern zurückgeschlagen. Und deshalb diese Skepsis: die Kommunisten haben doch alle Machtmittel in der Hand. Wird das wieder blutig enden? Wir haben an 1968 gedacht, an den Prager Frühling. Wir hatten ja eine Geschichte der Niederlagen der Demokraten. Und auf der anderen Seite gab es die Begeisterung, dass Menschen trotz dieser Geschichte der Niederlage, so etwas wagen.
DW: Im Dezember 1981 wurde vom kommunistischen Regime das Kriegsrecht in Polen verhängt, dessen erklärtes Ziel die Zerschlagung der Solidarnosc-Bewegung war. Wie haben Sie auf diesen Rückschlag damals reagiert?
Voller Wut, mir Enttäuschung und Zorn. Wir haben alle mit den Zähnen geknirscht, und es ging allen, so denke ich, im ganzen Ostblock.
Und dann passiert, was sehr interessant ist, dass in der Mitte der westdeutschen Bevölkerung eine Hilfsbereitschaft entsteht, die einfach unglaublich ist, dass Leute, ohne dass die Regierung sie aufgefordert hat, in ihren Kirchgemeinden oder Studentengruppen und Freundeskreisen, auch unsere ehemaligen Vertriebenen gar, haben gesammelt wie verrückt und Hilfsgüter nach Polen geschafft. Bei uns in der DDR war es schwieriger. Aber wir haben es in der Kirche auch gemacht. Ich erinnere mich zum Beispiel an Aktionen, wo wir Geld gesammelt haben, um ein Warschauer Kinderkrankenhaus zu unterstützen. Und diese Beziehung dann im Grunde auf der nicht politischen, auf der humanitären Ebene, um zu signalisieren: Liebe Polen, wir sind bei euch mit euren Sorgen und mit dieser Unterdrückung, die ihr habt.
Aber die Reaktionen seitens der offiziellen westdeutscher Politik waren sehr verhalten.
Solidarnosc ist ein Beispiel dafür, dass man sich nicht nur mit den Herrschenden gut stellen muss. Ein Gegenbeispiel war die Linie, die Egon Bahr von der SPD immer vertreten hat, die auch in bestimmten Phasen hilfreich war, aber eben nicht ewig. Denn viele im Westen sahen es nicht, dass diese Linie im Grunde eine Entspannungspolitik verhindern kann, wenn sie sich nur auf die Meinung und die Absichten der Herrschenden konzentriert. Solidarnosc lehrt nun diese Leute: Aha, es lohnt sich auch, mit anderen zu sprechen als mit den Herrschern. Und das haben einige im Westen früher und andere später und manche gar nicht begriffen.
Und dann kommt noch hinzu, dass für viele "progressive" Kräfte an den Universitäten oder in der Politik, in den Gewerkschaften, Solidarnosc zu katholisch war, zu antikommunistisch und nicht richtig links. Solidarnosc galt im Westen doch als irgendwie so konservativ, dass man sich nicht so richtig freuen könnte. Aber die Mehrheit in der Bevölkerung hatte eben ein anderes Gefühl, von Freude begleitet.
DW: Sie sagen das als damals engagierter Oppositioneller. War es aber nicht so, dass in der Bevölkerung, auch bis heute, eher die Faszination mit Gorbatschow und Perestroika überwiegt, möglicherweise aus Dankbarkeit dafür, dass die Russen doch nicht mit Panzern eingerollt sind?
Sehr interessante Beobachtung. Die Deutschen haben ein fast irrational positives Verhältnis zu Gorbatschow. Wir alle sollten ein positives Verhältnis zu Gorbatschow haben, weil er tatsächlich anders reagiert hat als alle anderen Kommunisten-Chefs zuvor. Er hat Moskau nachhaltig verändert weshalb Putin und viele andere Russen ihn nicht mögen. Man muss wissen: Für Deutsche ist Sicherheit wichtiger als Freiheit. Ich persönlich mag das nicht. Das ist der Grund meiner Sympathie für das polnische Volk, weil die polnische Nation in Jahrhunderten gelernt hat, dieser Freiheit einen hohen Wert beizumessen.
DW: Ist das der Grund, weshalb Solidarnosc in Polen und nicht in Ostdeutschland entstehen konnte?
Ich denke, dass viele Menschen bei uns im Osten jedenfalls die Hoffnung auf Veränderung verloren hatten. Und das hängt mit dem Aufstand vom 1953 zusammen, mit der Niederschlagung, dieser Kette der anderen Niederlagen und mit dem Bau der Mauer. Das ist so. Dadurch waren im Grunde Angst, Anpassungsbereitschaft, Vorsicht, Sorge vorherrschend. Das prägte das Leben in politischer Ohnmacht, was viele Leute im Westen nicht begreifen. Und in Polen hat das deshalb nicht so gut funktioniert, weil es diese jahrhundertelange Bereitschaft der Polen war, gegen die aktuelle Herrschaft eine eigene Identität zu behaupten und zu erkämpfen, wann immer das möglich ist. Das taucht in jeder Generation der polnischen Menschen wieder auf.
Freiheitsliebe ohne Mut wird ewig ein romantischer Traum sein. Das können die Deutschen gut. Sie können wunderbare Texte und Lieder romantischer Tonart machen und die Freiheit von Herzen lieben. Aber ob sie auch die Entschlossenheit und den Mut haben, dafür ein Risiko einzugehen und zu geben, und all das ist das, was ich aufgrund meiner Biografie und meines Lebens in der Diktatur so bewundernswert finde. Deshalb habe ich bei einer Gelegenheit in Polen mal gesagt: Die Sprache der Freiheit in Europa ist Polnisch. Wohlhabende Nationen muss man immer wieder daran erinnern, dass ihr Leben in Sicherheit und Freiheit nicht selbstverständlich ist und dass man verlorene Freiheit auch wieder gewinnen kann. Und dazu brauchst du ein starkes Fundament. Und es hat genügend Polen gegeben, die aufgrund des christlichen Glaubens oder der Liebe zu ihrer Heimat gedacht haben: es gibt eine andere Wirklichkeit als Überleben in der Diktatur, und das ist die große bleibende Botschaft der Solidarnosc-Bewegung für ganz Europa, eigentlich für alle Freiheitskämpfern der Welt.