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Juden in der DDR - vom Leben einer Minderheit

Elizabeth Grenier
8. September 2023

In der Hoffnung, "das bessere Deutschland" aufzubauen, hinterließen viele jüdische Künstler und Intellektuelle ihre Spuren in der DDR. Einige wenige hielten die religiöse Praxis trotz aller Repressionen am Leben.

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Alice Zadek mit ihrer Tochter Ruth und ihrem Neffen David Hopp auf der Stalinallee
Bilder aus einem untergegangen Land: Familie Zadek flaniert auf der StalinalleeBild: Gerhard Zadek

Ein junges Mädchen hält die Hand ihrer Mutter. Dahinter ragen die sozialistischen Arbeiterpaläste der Karl-Marx-Allee in Berlin auf, die zeitweise auch Stalinallee hieß. Ein Schnappschuss von der 1. Mai-Feier des Jahres 1956.

Der monumentale Boulevard war eines der bedeutendsten Wiederaufbauprojekte der 1949 gegründeten DDR. Mit ihm wollte sich der junge Staat auch international beweisen.

Das Diapositiv stammt aus dem Privatarchiv von Ruth Zadek. Es ist ein wichtiges Exponat der Ausstellung "Ein anderes Land. Juden in der DDR", die vom 8. September 2023 bis zum 14. Januar 2024 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen ist.

Alljährlich am Tag der Arbeit war die Stalinallee Aufmarschmeile für aufwendige Staatsparaden. Auch die Arbeiterstreiks, die als DDR-Aufstand von 1953 in die Geschichte eingingen, begannen auf der nach dem sowjetischen Machthaber Josef Stalin benannten Prachtstraße.

Doch nicht nur die Stadtansicht auf dem Foto markiert einen Schlüsselmoment der ostdeutschen Geschichte. Auch die kleine Familie steht für das Thema der Berliner Ausstellung.

Eine Gruppe Personen sitzt im Publikum und hört zu.
Zeitzeugen, deren Lebensgeschichten in die Ausstellung eingeflossen sind: Renate Aris, Ruth Zadek und Martin Schreier (v.l.n.r.)Bild: Sebastian Christoph Gollnow/dpa/picture alliance

Zurück nach Deutschland? Meschugge!

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 hatten sich Ruth Zadeks jüdische Eltern, Alice und Gerhard, einer Gruppe von Widerstandskämpfern in Berlin angeschlossen; 1939 floh das Paar nach England.

Die meisten ihrer jüdischen Freunde und Verwandten, die in Deutschland ausharrten, wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Dennoch beschlossen die Zadeks, nach dem Krieg in ihr Heimatland zurückzukehren - ein Schritt, den die Freunde im Vereinigten Königreich "meschugge", soll heißen: verrückt nannten. Mit diesem Wort sollten die Zadeks später auch ihre Memoiren überschreiben.

Angezogen von der Idee des Antifaschismus ließen sich die Zadeks in der sowjetisch besetzten Zone nieder, aus der 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wurde. Die Familie wollte dazu beitragen, die  sozialistische Utopie zu verwirklichen. So fügten sie sich in das politische System der DDR ein. Gerhard arbeitete als Chefredakteur verschiedener Zeitungen, Alice wurde Fabrikdirektorin. Auf Geheiß der sozialistischen Einheitspartei traten beide aus der jüdischen Gemeinde aus.

Die DDR war das "bessere Deutschland"

Die Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte für die Ausstellung war ein emotionaler Prozess für Ruth Zadek, erzählt die der DW. Sie war noch vor dem Fall der Berliner Mauer nach Westdeutschland gegangen, um ihre Karriere fortzusetzen und dem Mann, den sie liebte, zu folgen. Ihre Eltern Alice und Gerhard waren am Boden zerstört, als die DDR - durch die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik 1990 - aufhörte zu existieren. "Für sie zerbrach ein Traum", sagt Ruth Zadek.

Zeichnung einer geballten Faust.
Lea Grundig fertigte die Zeichnung "Geballte Faust" im Exil an Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Die Geschichte der Zadeks ist nur eine von vielen, die in der Ausstellung erzählt werden. Auch viele andere kommunistische Juden zog es in die DDR, die ihnen - wegen ihrer antifaschistischen Haltung - wie "das bessere Deutschland" vorkam. Zu den prominenten Namen zählen die Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983), die vor allem durch ihre Romane "Das siebte Kreuz" und "Transit" bekannt wurde, die Malerin und Grafikerin Lea Grundig (1906-1977) und der Komponist Hanns Eisler (1898-1962), der durch seine musikalische Zusammenarbeit mit dem Dramatiker Bertolt Brecht und die Komposition der ostdeutschen Nationalhymne bekannt wurde. Aber auch viele andere jüdische Intellektuelle hatten Anteil an Kultur und Politik der DDR.

Gedenken an die Opfer des Faschismus im Mittelpunkt

Das Gedenken an die Opfer des Faschismus zählte in der DDR zur Staatsdoktrin. Die Schulbücher erinnerten an die Verbrechen der Nationalsozialisten: Bilder von den Leichenbergen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen wurden gezeigt und die systematische Vergasung von Menschen in den Vernichtungslagern wurde im Unterricht thematisiert.

Die antisemitischen Motive der Täter seien jedoch nicht Teil des Diskurses gewesen, betont die Historikerin Annette Leo in dem Begleitbuch zur Ausstellung. Vielmehr seien die Opfer als "Häftlinge aus allen europäischen Ländern" bezeichnet und als Teil des Widerstands betrachtet worden.

Résistance-Armbinde von Dora Benjamin, zeigt die französische Flagge und das Lothringer Kreuz (ein langer und zwei kurze Querbalken) als Zeichen des frz. Widerstands gegen die Nazis.
Auch ausgestellt: die Résistance-Armbinde von Dora BenjaminBild: Roman März

Propagandistisch motiviert auch das: Die zum Eichmann-Prozess (Adolf Eichmann war im Dritten Reich für die Verfolgung und Deportation der Juden zuständig, Anmerk. d. Red.) nach Jerusalem entsandten DDR-Korrespondenten seien angewiesen worden, sich auf die NS-Verbrechen der damaligen westdeutschen Beamten zu konzentrieren.

Als 1967 der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn begann, veröffentlichten die ostdeutschen Behörden ein Schreiben mit dem Titel "Erklärung jüdischer Bürger der DDR, in der sie ihre Empörung über die israelische Aggression und die Israel-Washington-Bonn-Verschwörung zum Ausdruck bringen". Kein einziges Mitglied einer jüdischen Gemeinde hatte das Papier unterzeichnet. Die DDR-Zeitung "Neues Deutschland" schrieb, dass "der Antisemitismus in der DDR ausgerottet" sei. "Israel wurde als der imperialistische Staat schlechthin gesehen", betont Ruth Zadek.

Juden als Opfer stalinistischer Säuberungen

Die schwierigste Zeit für Juden in der DDR brach Anfang der 1950er-Jahre an, als das stalinistische Regime vermeintliche Feinde in den Ostblockländern als Teil einer "zionistischen Verschwörung" verfolgte.

Als unwiderlegbarer Beweis für die antisemitische Unterdrückung durch den Sowjetblock gilt ein Schauprozess, der 1952 gegen Rudolf Slansky, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, und 13 weitere hochrangige Funktionäre des Landes geführt wurde. Die während des Prozesses verwendete Rhetorik war unverhohlen antisemitisch und führte zur Todesstrafe für viele der jüdischen Angeklagten.

Unter Druck geriet auch der Vorsitzende des Verbandes der Jüdischen Gemeinden der DDR, Julius Meyer, ein frühes Mitglied der Kommunistischen Partei und Auschwitz-Überlebender. Er flüchtete im Januar 1953 mit vielen anderen ostdeutschen Juden in den Westen.

Man schätzt, dass bis zu einem Drittel der Juden in der DDR in dieser Zeit auswanderten, obwohl Historiker bis heute keine genauen Zahlen nennen können.

Eine kleine Gemeinschaft bleibt aktiv

Abgesehen von einigen prominenten Persönlichkeiten oder denjenigen, die sich aktiv in den kleinen Gemeinden engagierten, gab es kaum offizielle Zahlen zu ostdeutschen Bürgern mit jüdischer Identität.

Ende der 1980er-Jahre zählten die acht verbliebenen jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland weniger als 400 Mitglieder.

Ein siebenarmiger Leichter mit elektrischen Kerzen
Eine Menora des Jüdischen Kulturvereins in Berlin, der im staatseigenen Unternehmen "VEB Wohnraumleuchten" produziert wurde Bild: Roman März

Dennoch hielten sie am Judentum und ihren Traditionen fest. So zeigt die Ausstellung im Jüdischen Museum verschiedene rituelle Gegenstände, die von ostdeutschen Juden benutzt wurden. Zudem berichtet Renate Aris, die letzte Holocaust-Überlebende der Stadt Chemnitz, von ihren Erfahrungen.

Ihr Vater, Helmut Aris, wurde 1962 Präsident des Verbands der Jüdischen Gemeinden und leitete mehr als 30 Jahre lang die jüdische Gemeinde in Dresden. Als Renate Aris nach Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt, umzog, engagierte sie sich stark in der dortigen kleinen Gemeinde. Trotz der ablehnenden Haltung der DDR gegenüber Israel sei sie als Jüdin in den ostdeutschen Kleinstädten nie diskriminiert worden, sagt sie.

Und trotz aller Herausforderungen, denen ihre Familie ausgesetzt war - viele Mitglieder kamen während des Holocausts um -, blieb ihr Vater immer "ein engagierter deutscher Jude", dessen Credo "wir Juden haben immer irgendwie überlebt" ihn aufrecht hielt.

Ein strahlendes Symbol für Berlin

Ende der 1980er-Jahre, als die ostdeutsche Regierung hoffte, ihre Beziehungen zu den USA zu verbessern, begann sie mit dem Wiederaufbau der Neuen Synagoge in Berlin.

Die einstige Ruine der Synagoge, Foto von 1986
Die Berliner Synagoge 1986Bild: Eduard Knob/akg-images/picture-alliance

Die Synagoge aus der Mitte des 19. Jahrhunderts war während des Zweiten Weltkriegs zerstört worden, wurde aber nie abgerissen. Ihre Fassade blieb als Mahnmal für die Verbrechen der Nazis erhalten.

Die Ausstellung im Jüdischen Museum zeigt Fotos der Synagoge aus dem Jahr 1987: Darauf ist zu sehen, wie hinter der Mauer  zwischen den Trümmern Bäume wachsen.

Heute ist die wiederaufgebaute Synagoge eines der eindrucksvollsten Wahrzeichen Berlins und ein Zeugnis der jüdischen Gemeinde im wiedervereinigten Deutschland. 

Adaption aus dem Englischen: Stefan Dege und Silke Wünsch.