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"Ich kann auf keinen Fall wieder zurück in den Iran"

Chuck Penfold | Farid Ashrafian
13. September 2019

Saeid Mollaei verlor absichtlich bei der Judo-WM, weil die iranischen Behörden ihm befahlen, nicht gegen einen israelischen Gegner anzutreten. Im DW-Interview spricht er über sein Dilemma als iranischer Sportler.

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Judo WM 2019 | Saeid Mollaei aus Iran gegen Matthias Casse aus Belgien
Saeid Mollaei (r.) verlor absichtlich das WM-Halbfinale gegen den Belgier Matthias Casse ( l.)Bild: Getty Images/AFP/C. Triballeau

DW: Saeid Mollaei, bei der WM in Tokio waren Sie der Titelverteidiger in der Gewichtsklasse bis 81 Kilogramm. Sie wurden gezwungen, wie Sie es formulierten, "absichtlich zu verlieren", um nicht auf einen israelischen Gegner zu stoßen. Jetzt sind Sie in Deutschland. Wie denken sie heute über die Sache?

Nachdem ich 2018 in Baku Weltmeister geworden war, war ich ein Jahr lang die Nummer eins der Weltrangliste. Und ich spürte, dass ich es auch dieses Jahr schaffen könnte. Wir hatten schon vor der Abreise einige Probleme und dann auch am Tag meines Wettkampfes. Für jeden Kampf musste ich eine Erlaubnis einholen. Die Befehle kamen aus dem Iran, gingen an den Cheftrainer der Mannschaft, und ich musste diesen Befehlen Folge leisten. Nicht nur ich, die ganze Welt weiß, was es für Konsequenzen gehabt hätte, wenn ich mich verweigert hätte. Ich habe mich also an das Gesetz gehalten, damit für mich und meine Familie keine Probleme entstehen. Alle sind Zeugen, und es ist auch durch Filme belegt, dass ich zwar antrat, aber nur, um hundertprozentig zu verlieren. Ich habe eine Show veranstaltet, ich wollte nur, dass der Wettkampf zu Ende geht. 

Judo WM 2019 Saeid Mollaei
Bis zum WM-Halbfinale lief alles nach Plan für Saeid Mollaei Bild: Reuters/Kim Kyung-Hoon

Sie sprechen von der Regel im Iran, die es den Athleten des Landes verbietet, gegen Israelis anzutreten. Aber es gibt dazu kein schriftlich fixiertes Gesetz.

Es ist zwar kein geschriebenes Gesetz, aber es existiert seit vielen Jahren, hochrangige Würdenträger des Landes haben es verkündet. Niemand kann dieses Gesetz ändern. Auch beim Grand Slam in Abu Dhabi [Bei dem Wettkampf im Oktober 2018 wurde Mollaei Fünfter, der Sieg ging an den Israeli Sagi Muki - Anm. d. Red.] habe ich Kämpfe verloren und bin nicht zum Kampf um Bronze angetreten, nur um nicht mit einem Israeli auf dem Podium zu stehen. Ähnlich war es beim Masters in China - und auch beim Grand Slam in Paris. Dort habe ich Bronze geholt. Danach musste ich eine Show abziehen, habe an meinen Fuß gegriffen. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, nur um der Siegerehrung mit einem Israeli aus dem Weg zu gehen.

Welche Folgen hätte es für Ihre Familie, wenn Sie sich nicht an dieses ungeschriebene Gesetz halten würden?

Die Folgen sind möglicherweise nicht allen Funktionsträgern außerhalb des iranischen Systems bekannt. Aber wenn ein Sportler diesen Befehlen nicht Folge leistet, werden er und seine Familie hundertprozentig Probleme bekommen. Sogar jetzt weiß ich nicht, wie es um meine Familie im Iran steht. Ich stand an einem Scheideweg, ob ich am Wettkampf teilnehmen soll oder nicht. Mich hatte die Angst gepackt. 

Aber nach den Weltmeisterschaften habe ich der ganzen Welt gesagt, dass ich nur mutig und frei weiterleben möchte. Mir ist egal, ob ich gegen einen Judoka aus Israel oder irgendeinem anderen Land antrete: Für mich zählen nur Freundschaft und die Olympische Charta [die einfordert, dass Sport "ohne Diskriminierung jeglicher Art", im "Geist von Freundschaft, Solidarität und Fairplay" ausgeübt werden kann - Anm. d. Red.]. Ich kann auf keinen Fall wieder zurück in den Iran. All die Lügen, die über iranische Medien und Funktionäre über mich verbreitet wurden. Deshalb bin ich nach der WM nach Deutschland gekommen, um mich zu erholen und Abstand von den Ereignissen zu gewinnen. 

Judo-  Saeid Mollaei
Verzweifelt: Saeid Mollaie während des Halbfinale gegen den Belgier CasseBild: Getty Images/AFP/C. Triballeau

Wie fühlt es sich als Leistungssportler an, bewusst einen Kampf verlieren zu müssen - obwohl das gesteckte Ziel in Reichweite ist?

Ich hätte meine dritte WM-Medaille [nach Bronze 2017 und Gold 2018] gewinnen können, das ist für mich schwer zu ertragen. Ich werde die Weltmeisterschaft in Tokio bis an mein Lebensende nicht vergessen. Danach haben mir all die Gespräche, die ich geführt habe, klar gemacht, dass ich ein neues Leben beginnen muss. 

Unterstützt Sie der Judo-Weltverband IJF in dieser Angelegenheit?

In den Gesprächen mit der IJF wurde mir hundertprozentig garantiert, dass ich an den Olympischen Spielen teilnehmen kann, entweder für ein anderes Land oder für das IOC [Internationales Olympische Komitee]. Als ich nach der WM nach Deutschland kam, haben die iranischen Medien und der Cheftrainer gelogen und behauptet, ich hätte in Deutschland Asyl beantragt. Aber ich habe ein zweijähriges Visum für Deutschland und möchte hier nur etwas Abstand gewinnen, um die Entscheidungen des IJF und des IOC abzuwarten.

Vor einigen Tagen hat sich eine junge Iranerin vor einem Gerichtsgebäude in Teheran in Brand gesteckt, nachdem sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, weil sie versucht hatte, ein Fußballstadion zu betreten. Sie starb später an ihren Verletzungen. Was denken Sie darüber? 

Ich habe es aus den Medien erfahren, und es hat mich sehr traurig gemacht. Ich habe mich gefragt, warum solche Sachen nur in meinem Land passieren. Sind wir denn keine Menschen? Sind die Frauen keine Menschen? Warum haben die Frauen in unserem Land so viele Probleme? Warum gibt es keine Freiheit? Ich denke, alle diese Leute, die den Menschen verbieten, ihr Leben zu genießen, müssen sich eines Tages vor Gott rechtfertigen - und vor ihrem eigenen Gewissen.

Ich möchte die Welt bitten, uns zu helfen. Viele unserer Sportler sind gezwungen, sich mit diesen Dingen zu arrangieren. Und täglich vergrößert sich ihr Leid. Viele Sportler haben das Land und auch ihr privates Leben dort verlassen, weil sie ihre Träume verwirklichen wollen. Das ist sehr schwer. Danach gibt es nur noch Trauer und Schwermut.

Judo WM 2019 | Judo-Weltmeister Sagi Muki
Der neue Weltmeister, Sagi Muki aus IsraelBild: picture-alliance/AP Images/The Yomiuri Shimbun

Der israelische Judoka Sagi Muki, der die Weltmeisterschaft gewann, sagte, er hoffe, gegen Sie bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 anzutreten. Halten sie das für möglich?

Ich bin mit Sagi Muki gut befreundet, so wie auch mit allen anderen Sportlern. Er unterstützt mich, und ich danke ihm dafür. Ich hoffe wir können uns eines Tages als Freunde auf der [Judo-] Matte messen. Es ist letztlich unwichtig, wer gewinnt, es zählt die Freundschaft. 

Haben Sie immer noch Angst um ihre Familie? Befürchten Sie, dass Ihnen etwas zustoßen könnte, sollten Sie in den Iran zurückkehren? 

Unter diesem [politischen] System werde ich wahrscheinlich nicht mehr in den Iran zurückgehen. Es gibt keine Garantie für meine Rückkehr in den Iran. Nach der WM habe ich mir den Sieg bei den Olympischen Spielen als Ziel gesetzt. Es wird vielleicht sehr schwer sein, aber das ist mein Traum. Ich versuche alles, um meine Familie mit einer olympischen Medaille zu erfreuen. Es fällt mir sehr schwer, dass ich meine Eltern und meine Freunde nicht sehen kann. Aber ich muss damit klar kommen.

Der Iraner Saeid Mollaei wurde 2018 in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku Judo-Weltmeister im Halbmittelgewicht (Klasse bis 81 Kilogramm Körpergewicht). Es war der erste WM-Titel eines iranischen Judoka seit 15 Jahren. Bei der WM in Tokio Ende August war der 27-Jährige auf gutem Wege, seinen Titel zu verteidigen. Doch als sich abzeichnete, dass er im Finale auf den (späteren Weltmeister) Sagi Muki aus Israel treffen würde, schalteten sich hochrangige iranische Sportfunkionäre ein und forderten ihn auf, den Wettkampf zu beenden. Mollaei trat trotzdem weiter an, verlor dann aber sein Halbfinale und anschließend auch den Kampf um Bronze. Nach der WM kehrte Mollaei nicht in den Iran zurück, sondern reiste nach Deutschland, wo er ein langfristiges Visum besitzt. Er startet in der Judo-Bundesliga für den Kraftsportverein Esslingen 1984. 

Das Interview führten Farid Ashrafian und Chuck Penfold.