Assange: Nächster Akt im Auslieferungsdrama
27. Oktober 2021In London beginnt am Mittwoch das Berufungsverfahren im Fall Julian Assange. Die USA fechten ein Urteil vom 4. Januar an, das die Auslieferung des Gründers der Enthüllungsplattform Wikileaks an die USA untersagt. Wegen seiner Veröffentlichungen drohen Assange dort bis zu 175 Jahre Haft. Wikileaks hatte unter anderem das brutale Vorgehen der USA in Afghanistan und im Irak aufgedeckt und schwere Kriegsverbrechen enthüllt. Für diese wurde bislang niemand zur Verantwortung gezogen.
Das Urteil vom Januar hatte zunächst bei Menschenrechtlern, Journalistenverbänden und Unterstützern Erleichterung ausgelöst. Aber sie dauerte nur so lange, wie es brauchte, die Urteilsbegründung zu lesen. Die Richterin habe "ausschließlich den humanitären Grund gelten lassen, dass Assange in den USA unmenschliche Haftumstände zu erwarten hat", erklärte die Grünen-Medienpolitikerin Margit Stumpp im August gegenüber der DW. "Sie hat keinen der Gründe der USA für die Auslieferung abgelehnt oder auch nur hinterfragt. Deswegen droht Julian Assange die Auslieferung, wenn die USA nachweisen, dass die Haftbedingungen so sein werden, dass seine Gesundheit gesichert ist und damit auch sein Leben."
Dass Assange durchaus Grund hat, um sein Leben zu fürchten, zeigen Ende September veröffentlichte Recherchen eines Investigativteams von "Yahoo News". Unter der Überschrift"Entführung, Ermordung und eine Schießerei in London: Einblicke in die geheimen Kriegspläne der CIA gegen Wikileaks" berichtet Yahoo unter anderem, wie Beamte des US-Auslandsgeheimdiensts CIA 2017 darüber nachgedacht haben sollen, Julian Assange aus dem Exil zu entführen und zu ermorden. Basis für die Enthüllungen sind Gespräche mit insgesamt 30 Geheimdienstlern und Regierungsmitarbeitern. Mike Pompeo, unter Donald Trump zunächst CIA-Direktor und später US-Außenminister, forderte in einer Reaktion auf die Yahoo-Veröffentlichung, die Gesprächspartner der Investigativjournalisten wegen der Weitergabe geheimer Informationen anzuklagen. Beobachter werten das als indirekte Bestätigung der Vorwürfe. Mittlerweile interessiert sich auch der Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses für die CIA-Pläne.
Menschenrechtler fordern Freilassung
Für die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, schwächen die Berichte über angebliche CIA-Mordpläne die ohnehin schon unzuverlässigen Zusicherungen der US-Diplomaten über eine menschenwürdige Behandlung von Assange weiter ab. "Die Zusicherungen der US-Regierung, Julian Assange nicht in ein Hochsicherheitsgefängnis zu stecken oder ihn missbräuchlichen Sonderverwaltungsmaßnahmen zu unterwerfen, wurden durch ihr Eingeständnis diskreditiert, dass sie sich das Recht vorbehält, diese Garantien zu widerrufen", sagte Callamard am Dienstag. "Berichte, wonach die CIA eine Entführung oder Tötung von Assange in Erwägung gezogen hat, lassen noch mehr Zweifel an der Verlässlichkeit der US-Zusagen aufkommen und machen die politischen Motive hinter diesem Fall noch deutlicher", fuhr die AI-Generalsekretärin fort. Sie sieht durch die "unnachgiebige Verfolgung" von Julian Assange die Medien- und Meinungsfreiheit gefährdet. Callamard fordert die US-Behörden auf, die Anklage gegen Assange fallen zu lassen; die britischen Behörden sollten den Australier nicht ausliefern, sondern sofort freilassen.
Bereits Mitte Oktober hatten 25 internationale Bürgerrechtsorganisationen einen offenen Brief an US-Generalsstaatsanwalt Merrick Garland verfasst. Darin fordern sie - auch unter Verweis auf die durch Yahoo aufgedeckten "alarmierenden Diskussionen innerhalb der CIA und der Regierung Trump" - die strafrechtliche Verfolgung von Julian Assange fallen zu lassen. Die Organisationen - darunter Reporter ohne Grenzen, Human Rights Watch oder die American Civil Liberties Union - hatten bereits im Februar in einem offenen Brief betont, die Verfolgung wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente sei eine Bedrohung für die Pressefreiheit. Jetzt schrieben sie, die Enthüllungen über angebliche CIA-Pläne "verstärken nur unsere Besorgnis über die Motive, die hinter dieser Strafverfolgung stehen, und über den gefährlichen Präzedenzfall, der geschaffen wird."
Die USA werfen Assange vor, durch Diebstahl und Veröffentlichung von geheimem Material von Militäreinsätzen das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Hunderte Informanten seien nach der Veröffentlichung entweder verschwunden oder hätten ihren Aufenthaltsort wechseln müssen, sagte etwa im Auslieferungsverfahren Anwalt James Lewis, der die USA vertritt. Er musste allerdings hinzufügen: "Die USA können derzeit nicht beweisen , dass ihr Verschwinden auf die Enthüllungen von Wikileaks zurückzuführen ist."
"Politisches Verfahren"
Gegenüber der DW sprach Christian Mihr, Deutschland-Chef von Reporter ohne Grenzen (RoG), bereits im August von einem "politischen Verfahren", das endlich gestoppt werden müsse. Mit Joe Biden sei mittlerweile der dritte US-Präsident in die Verfolgung Julian Assanges involviert: Die Ermittlungen wurden von der Regierung Obama eingeleitet. Donald Trump ließ ihn anklagen. Und Joe Biden hat bislang den Appellen, die Verfolgung einzustellen, kein Gehör geschenkt.
Solche Appelle kamen auch aus Deutschland, unter anderem diesen Sommer. Da hatten 120 prominente Unterzeichner in einem offenen Brief die Freilassung von Assange gefordert, darunter Bundestagsabgeordnete, ehemalige Bundesminister, Künstler, Journalisten. Kanzlerin Angela Merkel wurde aufgefordert, diesen Wunsch im Juli bei ihrem Abschiedsbesuch in Washington dem US-Präsidenten zu übermitteln. Ob sie das getan hat, ist allerdings nicht bekannt.
Auch Margit Stumpp hatte den Brief unterzeichnet. Für die ehemalige Grünen-Abgeordnete wäre die Auslieferung und Verurteilung von Assange ein "verheerendes Signal an Journalistinnen und Journalisten", sagte Stumpp der DW. "Wer investigativ arbeitet, müsste sich in Zukunft ständig durch demokratisch legitimierte Staatsgewalt bedroht fühlen. Die Freiheit der Presse auch in Europa wäre extrem eingeschränkt."
Doppelmoral freut Autokraten
Autokraten und Diktaturen beobachten sehr genau den Umgang der USA - und Großbritanniens - mit Julian Assange und anderen Whistleblowern. Ihnen ermöglicht der Umgang mit dem Wikileaks-Gründer, westliche Kritik am Zustand der Pressefreiheit in ihren Ländern als Doppelmoral abzutun. So wie es die chinesische Außenamtssprecherin Hua Chunying Anfang Mai tat. Auch deshalb fordert Margit Stumpp: "Wenn die USA und die westliche Staatengemeinschaft glaubhaft für den Schutz von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit einstehen wollen, müssen sie aufhören, an Julian Assange ein Exempel für die Verfolgung unliebsamer Journalisten zu statuieren."
Seit über elf Jahren lebt der Enthüllungsjournalist nicht mehr in Freiheit. Seine letzten drei Geburtstage verbrachte er im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, bekannt für seine harten Haftbedingungen. Keines Verbrechens schuldig gesprochen, muss der Journalist weiter hinter Gittern auf die Entscheidung warten, ob Großbritannien ihn an die USA ausliefern wird. Anträge auf Freilassung auf Kaution oder in den Hausarrest - durchaus üblich in solchen Verfahren - wurden bislang abgelehnt.
Für die Grünen-Politikerin Stumpp ist das angesichts der schweren Haftbedingungen ein rechtsstaatlicher und humanitärer Skandal. Auch weil die Auslieferungsentscheidung sich durch mehrere Instanzen noch über Jahre hinziehen kann. Was durchaus im Interesse der USA liegen könnte. Julia Hall, Menschenrechtsexpertin von Amnesty International, hatte diesen Sommer analysiert: "Die Strategie besteht darin, Assange so lange wie möglich in Haft zu halten. Das ist eine Art 'Tod durch tausend Schnitte'."
Dieser Beitrag wurde am 28.10.2021 aktualisiert.