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"Jahr der Entscheidung für Europa"

Barbara Wesel 14. September 2016

Die EU steckt in einer existenziellen Krise, aber sie werde wegen des Brexit nicht zerfallen, sagt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. In seiner Rede zur Lage der Union ruft er zu mehr Einigkeit auf.

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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (Foto: epa)
Bild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Keine Scherze mehr, keine Küsschen: Ein ernster, müde wirkender Jean-Claude Juncker bewertet die Lage der Europäischen Union: "Die nächsten zwölf Monate werden entscheidend sein." Und er sagt, was nicht passieren wird: Weitere Integration. Das engere Zusammenwachsen der EU ist vorläufig abgesagt. "Europa darf nicht zum Einheitsstaat werden", sagt der Kommissionspräsident stattdessen. Keiner wolle Nationalstaaten "platt machen". Das richtet sich wohl an die Populisten - vom französischen Front National bis zum Ungarn Viktor Orban - die das immer wieder behaupten.

Europa der Projekte

Auf Deutsch, Englisch und Französisch erörtert Jean-Claude Juncker den Ernst der Lage und macht Lösungsvorschläge für viele Einzelprobleme: Man brauche jetzt handfeste Ergebnisse und ihre fristgerechte Umsetzung. Wo der glühende Europäer früher gern emotionale Worte fand und den großen politischen Bogen zog, bleibt er diesmal stocknüchtern: "Wir wollen gegen Steuervermeidung durch Großkonzerne kämpfen." Da gab es etwas höhnisches Gelächter im Saal, die Luxleaks-Affäre ist nicht vergessen.

Juncker will den Bauern faire Milchpreise gewähren, europäische Stahlproduzenten gegen Dumping aus China schützen, die Telekom-Märkte reformieren - und macht so schöne Versprechen wie: Freies Internet für alle schon 2020. Und um das Kommunikationsdesaster um die Roaming-Gebühren für die Handynutzung im Ausland zu beenden, kassiert er die Regelung und verspricht eine neue, bessere. Der nach ihm benannte Investitionsfonds soll darüber hinaus verdoppelt werden - der Kommissionspräsident will zeigen, dass er jetzt die EU dazu bringen kann, konkrete Ergebnisse für die Bürger zu liefern.

Politische Vorhaben

Nicht alles in der Rede ist kleinteilig. Die anhaltende Jugendarbeitslosigkeit vor allem in Südeuropa ist eines der großen Themen. "Ich kann nicht akzeptieren, dass dies die erste Generation ist, die ärmer ist als ihre Eltern", ruft Juncker. Zuständig für Arbeitsplätze sind allerdings die Mitgliedsstaaten - da könne die EU-Kommission nur unterstützen. Aber sie kann die vereinbarte gemeinsame Grenzsicherung umsetzen, denn die Bürger seien verunsichert durch das Erlebnis des Kontrollverlustes bei der Migrationswelle im vergangenen Jahr. Schon ab Oktober sollen also 200 neue Frontex-Grenzwächter helfen, die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei zu sichern: "Jeder Einreisende wird registriert. Ab November wollen wir ein neues Reise-Informationssystem und überprüfen, ob jemand das Recht zur Einreise hat." Außerdem soll Europol gestärkt werden.

Britische Fahnen und der Big Ben (Foto: dpa)
Juncker: Großbritannien sollte die Austrittsverhandlungen bald startenBild: picture alliance/dpa/M. Kappeler

Das wichtigste Projekt neben der Grenzsicherung ist die gemeinsame Verteidigung. Nach dem Abgang der Briten ist die Bahn dafür frei: "Wir sollten unsere militärischen Ressourcen zusammen legen", schlägt der Kommissionspräsident vor. Ein Projekt, das bereits von der deutschen Verteidigungsministerin und ihrem französischen Amtskollegen angeschoben wurde, und das beim Gipfeltreffen in Bratislava ebenfalls auf der Agenda steht.

Juncker sagte wenig zur Flüchtlingskrise, merkte nur an, dass man Solidarität nicht erzwingen könne - "sie muss von Herzen kommen". Das wird als Absage an den Plan zur verpflichtenden Umverteilung von Flüchtlingen gesehen.

In Punkto Großbritannien beschwor er dann, die EU sei durch den Brexit nicht in ihrem Bestand gefährdet. Er appellierte aber an London, die Austrittsverhandlungen bald zu starten, um die Unsicherheit zu beenden.

Freunde und Gegner der EU

Dafür plädiert auch der vom Parlament ernannte Verhandlungsführer, der Liberale Guy Verhofstadt: "Wir müssen den Brexit zu einem Erfolg für Europa machen." Er erteilte den Populisten mit ihren einfachen nationalistischen Antworten auf die Probleme eine glühende Absage: Mauern und Zäune sind keine Antwort, Nationalismus ist ein Krebsgeschwür. "Lasst uns die kollektive Depression beenden und Europa neu erfinden", beschwor er die Abgeordneten. Auf Verhofstadt ist Verlass, wenn es darum geht, neben der Analyse auch Emotionen zu liefern.

Von den Europagegnern wie Nigel Farage und Marine Le Pen kamen die bekannten Argumente: Der Brite sieht mit dem Brexit eigentlich sein Werk vollendet und fordert auch andere zum Gehen auf. Die Französin will dabei die Erste sein: Sie kündigt ein Ausstiegsreferendum an, sollte sie im nächsten Jahr zur Präsidentin gewählt werden. Für Le Pen gilt nur die nationale Gemeinschaft - die EU arbeite aus ihrer Sicht gegen den Willen der Völker.

EU will zuhören

Nicht nur Jean-Claude Juncker versprach, er wolle den Bürgern zuhören und ihre Ängste aufnehmen. Er hatte diese Rede seit Wochen intensiv vorbereitet und die Mitgliedsländer nach ihren Wünschen gefragt. Das Ergebnis hatte schließlich mehr die Anmutung einer Wäscheliste, als die einer aufrüttelnden Ansprache an die Europäer. EP-Präsident Martin Schulz nannte sie dennoch "eine starke Rede".

Er betont darüber hinaus im Interview mit der DW, man dürfe den Populisten keine Zugeständnisse bei ihren nationalistischen Forderungen machen. Man brauche nicht weniger, sondern mehr internationale Zusammenarbeit. Und was hält der Parlamentspräsident für die wichtigste Aufgabe der EU? "Wir müssen das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen". Und Martin Schulz weiß, dass das zugleich die schwierigste ist.