Jung gegen Alt
10. März 2015"Eine Verständigung mit der jungen Generation und den Versuch, sich in ihr Denken hineinzuversetzen, gab es erst, als das Schiff schon gesunken war, nach dem Putsch und dem Massaker", sagt die 20-jährige Hend. Sie ist Mitglied in der Muslimbruderschaft und will wegen der staatlichen Verfolgung der Organisation nur mit ihrem Vornamen genannt werden. "Die meisten revolutionären Bewegungen sind auf der Straße entstanden, wo die Jugendlichen eine entscheidende Rolle spielen. Dies ist eine Schlacht der Jugend", sagt Hend der Deutschen Welle. Die Jugend der Muslimbruderschaft ist frustriert und ungeduldig mit ihrer Führung, die entweder inhaftiert ist, im Exil lebt oder sich zerstreut hat. Diese Jugend ist schwer zu kontrollieren. Der Bruch zwischen Jung und Alt hat sich noch vertieft, und er hat die Sorge verstärkt, dass eine wachsende Zahl der Jungen sich radikalisiert und zur Gewalt greift.
"Allgemein gesagt, meidet die ältere Generation der Bruderschaft Risiken, Revolution und Instabilität, ganz anders als die jungen Leute", sagt Hamza Sarawy, ein 24-jähriger ehemaliger Mitarbeiter des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Heute steht der junge Mann der Bruderschaft kritisch gegenüber. Sarawy sagt, die jungen Leute seien desillusioniert angesichts einer Führung, die während ihrer Regierung andere ausgeschlossen habe, statt mit Nichtislamisten zusammenzuarbeiten, und die an der Macht die direkte Konfrontation gescheut und sich nie an eine Reform staatlicher Institutionen wie der Polizei herangewagt habe, die zum Sinnbild der Unterdrückung geworden sei.
Wer ist schuld?
"Statt radikale Lösungen zu suchen, greifen sie auf halbe Lösungen zurück", so Sarawy. Viele Jugendliche innerhalb der Bruderschaft werfen ihren alternden Führern vor, ihre Gelegenheit zu politischer Macht vergeudet und in der Folge den Weg der blutigen Unterdrückung ihrer Mitglieder geebnet zu haben. Tausende sind ums Leben gekommen, und noch mehr sind im Gefängnis gelandet. Massenverurteilungen sind an der Tagesordnung. Mohammed Badie, der 71 Jahre alte geistliche Führer der Gruppe, der in drei voneinander unabhängigen Gerichtsverfahren zu einer dreimal lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde, muss sich derzeit außerdem zusammen mit 198 angeblichen Unterstützern der Bruderschaft vor einem Militärgericht verantworten. Badie und den anderen wird Vandalismus, Aufstachelung zur Gewalt, Mord, Angriff auf Sicherheitskräfte und Brandanschläge auf zwei koptische Kirchen in Suez vorgeworfen.
"Vor allem seit dem Putsch ist die Kluft zwischen jungen und alten Mitgliedern der Bruderschaft viel, viel größer geworden, weil man irgendwem die Schuld geben musste", sagt ein Verwandter eines bekannten, zur Zeit inhaftierten Mitglieds der Bruderschaft. Der Verwandte, der selbst weder ein Mitglied noch Unterstützer der Bruderschaft ist, wollte anonym bleiben. Führende Figuren der Organisation, die außerhalb Ägyptens leben, geben zwar zu, es gebe einen Generationskonflikt innerhalb der Gruppe, sagen aber auch, das sei nicht ungewöhnlich. "Ich glaube, das ist eine Kluft wie in jeder Gesellschaft", sagt Abdullah al-Haddad von der Londoner Pressestelle der Bruderschaft. "Die ältere Generation der Bruderschaft ist vorsichtiger und lehnt Gewalt als Strategie ab, doch alle arbeiten im Rahmen der gleichen Ideologie."
Anführer im Exil
Die Anführer der Gruppe im Exil haben immer wieder gesagt, sie lehnten Gewalt ab und verurteilen Terrorangriffe, wenn sie im Land verübt werden. Doch sie räumen ein, es gebe einzelne Sympathisanten und Unterstützer, die sich außerhalb ihrer Kontrolle befänden. Sie machen staatliche Unterdrückung für die Gewalt verantwortlich. "Das Sisi-Regime will sie zu gewaltsamen Aktionen auf der Straße treiben, aber wir werden stattdessen wöchentliche friedliche Proteste sehen", sagt Haddad. "Das soll nicht heißen, dass es keine Leute gäbe, die an gewaltsame Aktionen denken. Leider hat es zahlreiche Übergriffe auf Gebäude der Polizei und der Armee gegeben, was ein sehr gefährliches Zeichen ist."
"Die Bruderschaft als Organisation wird niemals offen zur Gewalt aufrufen, aber eindeutig liebäugeln sie mit der Idee der Gewalt und gehen großzügiger mit gewaltsamen Aktionen um, wenn sie von einzelnen Leuten kommen", so Michael Wahid Hanna von der New Yorker Denkfabrik The Century Foundation. "Denn erstens können sie das nicht kontrollieren, und zweitens, wenn sie es versuchten, würde das zu Brüchen innerhalb der Organisation führen." Da inzwischen fast alle Führungsfiguren der Bruderschaft inhaftiert seien oder im Exil leben und die Organisation nicht normal funktioniert, meint Hanna, dass die Gruppe gezwungen sei, Autorität auf der unteren Ebene zu entwickeln, so dass örtlich autonome Gruppen entstehen.
"Dies ist notwendiger Schritt, um die Organisation funktionstüchtig zu halten und um zu verhindern, dass Leute abtrünnig werden", sagt er. "Das sieht man auch an der Art, wie sie mit dem Gewaltthema umgehen." Der Umgang mit dem Generationskonflikt und der Versuch, unzufriedene Jugendliche von Gewalt abzuhalten, während die Unterdrückung der Regierung weitergeht, ist noch dringlicher geworden, seit die militante ägyptische Gruppe Ansar Bayt al-Maqdis im vergangenen Jahr dem "Islamischen Staat" Treue geschworen hat.
Hierarchie zählt
Doch das Problem des Generationskonflikts beschränkt sich in Ägypten nicht auf die Muslimbruderschaft. In einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung unter 35 Jahre alt sind, und in dem alternde Eliten die Regierung beherrschen, hat diese Situation zu drei Jahrzehnten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stagnation geführt. Und junge Ägypter aller politischer Strömungen werfen der Generation ihrer Eltern vor, nichts dagegen getan zu haben. "Ägypten ist ein hierarchisches Land, man bevormundet die Jugend, es gibt die starre Vorstellung vom angemessenen Platz in der Gesellschaft, den die Jugend einnehmen sollte", sagt Hanna. Als Präsident Abdel Fattah al-Sisi kürzlich neue Gouverneure ernannte und auch einige jüngere dabei waren, zeigte das, dass die Regierung das Problem bis zu einem gewissen Grad erkannt hat, glaubt Hanna. "Sie haben versucht, das zu kompensieren, und haben gemerkt, dass die Konsequenzen schlecht sind."