Junge Politiker: Fallstricke der sozialen Medien
13. Oktober 2021Sie hat auf Twitter Spuren hinterlassen: Einige ihrer Tweets sind beleidigend, andere abwertend, homophob, manche enthalten gar Mordfantasien. Es sind die Einlassungen einer 13, 14-Jährigen. Ein Mädchen also. Ein Mädchen, das mittlerweile - rund sieben Jahre später - zur Jungpolitikerin geworden ist.
Als Sarah-Lee Heinrich zur Sprecherin der Grünen-Jugend gekürt wurde, tauchten prompt ihre Tweets wieder auf. Sie lösten eine Debatte aus, die sich so weit steigerte, dass sich Heinrich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Nach Angaben der Grünen-Jugend erhielt die 20-Jährige Morddrohungen. Zuvor hatte sie sich von einigen Tweets distanziert und sich entschuldigt.
Einige nahmen Heinrich in Schutz, sprachen von "Jugendsünden", für andere sind die Tweets mehr als nur eine Dummheit aus der Kindheit. Unabhängig davon, wie schwer die Verfehlungen nun konkret wiegen, wirft die aktuelle Debatte um die junge Politikerin Fragen auf, die weit über den Einzelfall hinausgehen: Wie kann man umgehen mit "digitalen Jugendsünden"? Welche Funktion haben die sozialen Medien? Und wie geht die Gesellschaft damit um?
Das Internet als Pranger
Grundsätzlich gebe es eine veränderte Debattenkultur, sagt Christoph Neuberger vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin: "Wir erleben eine Verschärfung, häufig mit einer Moralisierung und starken Personalisierung. Dadurch werden die Möglichkeiten, das Internet als Pranger zu nutzen, stärker genutzt".
Dass die Debattenkultur roher und gnadenloser geworden ist, ist seit langem bekannt. Der Fall Heinrich zeige aber noch eine neue Dimension, ergänzt Georg Materna, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in München (JFF) - vor allem, was junge Menschen angeht.
Während soziale Netzwerke bisher vor allem als Orte betrachtet worden seien, in denen sich junge Menschen mit ihren Peers austauschten und an ihren Identitäten bastelten, rücke nun zunehmend in den Mittelpunkt, dass soziale Netzwerke auch als politische Öffentlichkeiten verstanden werden könnten. "Das hat auch mit dem Aufkommen des Rechtspopulismus und des Islamismus zu tun, die sich sehr gezielt und geschickt sozialer Medien bedient haben, um ihre in Massenmedien nicht publizierbaren Positionen in die Öffentlichkeit zu bringen", sagt Materna.
Der private, öffentliche Raum
Wenn soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook und TikTok nicht nur der Unterhaltung dienen, dann gelten auch die alten Verhaltensregeln nicht mehr. Dann müssen Jugendliche nicht nur bei unvorteilhaften Party-Bildern aufpassen, sondern eben auch bei politischen Äußerungen. "Studien haben gezeigt, dass sich Jugendliche durchaus bewusst sind, dass sie mit ihren Posts zu politischen Themen in sozialen Medien einen Shitstorm riskieren können und dass sie deswegen auch zurückhaltend agieren", sagt Materna.
Eine Online-Umfrage des Instituts für Jugendkulturforschung in Österreich beispielsweise ergab, dass es unter Jugendlichen zum Schutz der Privatsphäre einen Trend zu zeitlich begrenzten Inhalten gebe, also beispielsweise Stories auf Instagram, die nach 24 Stunden nicht mehr sichtbar sind.
Doch auch das ist keine Garantie. "Wer es darauf anlegt, kann alles dokumentieren. Technisch gibt es keinen vollständigen Schutz", sagt Neuberger von der Freien Universität Berlin. Deshalb sei es umso wichtiger, dass gerade junge Nutzer und Nutzerinnen eine grundsätzliche Zurückhaltung verinnerlichten.
Auch Georg Materna sieht eine Eigenverantwortung bei jungen Menschen, die sich auf Twitter und Co. bewegten. Die kommerziellen Betreiber der sozialen Netzwerke verstünden langsam, dass "sie eben auch politische Öffentlichkeiten und nicht nur neutrale soziale Netzwerke sind". Wichtiger sei aber, wie die Gesellschaft als Ganzes auf den Wandel von Öffentlichkeit, die Veränderung politischer Diskurse und auf die Zunahme von verfügbaren Inhalten im Netz reagiere.
Früher, schärfer, gnadenloser
Denn auch frühere Generationen wurden mit kompromittierenden Ereignissen ihrer Jugend konfrontiert. 2001 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin "Stern" Fotos des damaligen Außenministers Joschka Fischer, die ihn in den 1970er Jahren auf gewalttätigen Demonstrationen zeigten. Der Minister zeigte sich reumütig - politische Konsequenzen gab es nicht.
Im Fall von Heinrich liegen die Tweets nicht 30 Jahre zurück, sondern gerade einmal sieben. Und sie steht am Anfang ihrer Karriere. "Die Suche nach Fehltritten im Digitalen wird zunehmen", sagt Materna: "Dass es vor allem junge PolitikerInnen trifft, liegt wahrscheinlich daran, dass die sich seit frühesten Tagen in sozialen Netzwerken bewegen".
Es stelle sich aber auch die Frage an Massenmedien, an Journalisten, wie sie in Zukunft mit diesen "Jugendsünden", die offen zugänglich sind, umgehen werden. Dabei gehe es nicht nur darum, ob man einer Minderjährigen ihre Einstellungen noch Jahre später vorhalten kann, sondern auch, dass einige dieser Shitstorms von rechten Accounts initiiert wurden.
Das hat beispielsweise die Wochenzeitung "Die Zeit" im Fall der Journalistin Nemi El-Hassan nachgezeichnet. Ihr wurden vor einer Beschäftigung als Moderatorin beim öffentlich-rechtlichen TV-Sender WDR ebenfalls problematische Likes in den Sozialen Medien vorgeworfen und die Teilnahme an einer antisemitischen Demonstration.
"Es ist das Eine, als JournalistIn bei der Recherche auf kompromittierende Inhalte zu stoßen. Aber es ist noch einmal etwas Anderes, Inhalte aufzugreifen, die gezielt von extremistischen Gruppen gestreut werden, und diesen damit noch einmal eine viel größere Reichweite zu geben", sagt Materna.
In jedem Fall bedeutet der Wandel der Öffentlichkeit, die Suche nach Fehltritten und die schonungslosere Debattenkultur, dass sich junge Politiker und Politikerinnen wohl früher anpassen müssen. Mehr als vorherige Generationen dürften sie sich zunehmend bewusst machen, dass ihre digitalen Spuren Konsequenzen haben können. Spuren, die sie hinterlassen, bevor sie überhaupt wissen, dass sie einmal eine politische Laufbahn einschlagen werden.