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Justus Lenz: Die Toten sichtbar machen

Stefan Dege16. Juni 2015

Das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) vereint Aktionskünstler und Menschenrechtler. Jetzt holten sie die Leiche eines Flüchtlings nach Berlin. ZPS-Mitglied Justus Lenz spricht über die umstrittene Kunstaktion.

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ein aufgeschütteter Grabhügel, Menschen stehen darum herum
Bild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

DW: Sie reiten schon mal zu Pferde vor das Kanzleramt, um ihre zehn Thesen anzuschlagen. Oder versteigern Merkel und Steinmeier bei eBay in der Rubrik "gebraucht". Oder errichten ein Mahnmal aus Schuhen von Opfern des Massakers von Srebrenica. Nun holen Sie eine Flüchtlingsleiche nach Berlin. Warum?

Justus Lenz: Wir befassen uns ja durchweg mit dem Thema Völkermord, auch hier. Wir sind diesmal näher dran, als uns das klar ist. Wir reden von der europäischen Mauer, einer der tödlichsten Grenzen der Welt. Jedes Jahr sterben Tausende Menschen bei dem Versuch, sie zu überqueren. Wir bringen jetzt die Opfer der militärischen Abriegelung Europas in das deutsche Regierungsviertel, damit die politisch Verantwortlichen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen sehen. Es ist schockierend, aber als toter Flüchtling bist du schneller in Deutschland als lebendig. Dort, wo sich die Opfer der militärischen Abriegelung derzeit befinden, werden sie massenhaft verscharrt, namenlos. Die Behörden sind mit den Leichenbergen überfordert. Die deutsche Regierung ist bei diesem Thema führend in der Verantwortung. Wir möchten diese Menschen sichtbar machen, ihnen ihre Würde zurückgeben.

Zentrum für Politische Schönheit Sprecher Justus Lenz
Justus Lenz auf dem Plakat der AktionBild: Zentrum für Politische Schönheit, Berlin

Sie nennen Ihre Aktion "Die Toten kommen". Wird sie den Flüchtlingen helfen?

Das ist das Ziel, definitiv: Der sofortige europäische Mauerfall, die Rettung dieser Menschen. Niemand darf bei dem Versuch zu leben ums Leben kommen, erst recht nicht auf diese bestialische Art und Weise – unter den Augen der Öffentlichkeit, die zwar betroffen ist, aber nicht reagiert.

Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Deutschlands Bürokratie hätte die Möglichkeit, sich um das Problem zu kümmern - und tut nichts! Der Innenminister benutzt das Mittelmeer quasi als Verbündeten.

Die Medien reagieren auf solche Spektakel. Weil sie polarisieren und alle Welt zwingen, sich eine Meinung zu bilden. Gerät das Flüchtlingselend sonst in Vergessenheit?

Die Kanzlerin äußert Mitgefühl in Reden und Schlagzeilen. Viele denken, die Politiker werden schon tun, was sie können. Absurderweise tun sie das nicht! Sie tun das Gegenteil. Sie ziehen die Grenzen höher. Sie setzen Frontex ein. Das ist ein Abwehrkrieg, ein Abschottungskrieg!

Wie denken Sie über die Ursachen? Europa schottet sich ab. Keiner will von seinem Wohlstand etwas abgeben?

Natürlich kann Europa nicht die Probleme der Welt lösen. Aber ich glaube, dass Europa in der Lage ist, einen gigantischen humanitären Akt zu leisten. Viele der Ursachen, weshalb diese Menschen ihre Heimat verlassen, liegen unmittelbar in der Verantwortung der Europäischen Union, sei es in Krisen- oder in Kriegsgebieten. Da fängt diese Abschottung doch eigentlich schon an. Wir nehmen uns. Wir geben nicht. Aber die Konsequenz dessen soll vor der Tür bleiben?

Aktivisten entfernen Gedenkkreuze für Mauertote
Aktivisten entfernen Gedenkkreuze für Mauertote: eine frühere Aktion des KünstlerkollektivsBild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Welche Rolle spielt hier die Kunst?

Wir haben die Kunst, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber ich finde diesen Satz passend. Ich denke, Kunst kann unglaublich viel. Und Kunst darf ganz viel. Und natürlich muss Kunst auch ganz viel!

Justus Lenz ist Mitglied des Künstlerkollektivs "Zentrum für Politische Schönheit" in Berlin. Das Interview führte Stefan Dege.