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"Bringt nichts, in Ehrfurchtshaltung zu erstarren"

17. Juni 2019

Wie korrigiert man einen Text von Jürgen Habermas, einem der größten lebenden Philosophen? Eva Gilmer weiß es: Sie ist seine Lektorin beim Suhrkamp Verlag.

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Jürgen Habermas, deutscher Philosoph
Bild: picture-alliance/dpa/S. Pantzartzi

DW: Lässt sich ein so renommierter Philosoph und Soziologe wie Jürgen Habermas überhaupt lektorieren? Nimmt er Korrekturen von Ihnen an? Macht er manchmal auch Kommafehler?

Eva Gilmer: Natürlich gibt es ein Lektorat! Es sind ja zunächst einmal einfach nur Texte, aus denen Bücher werden sollen; und die Aufgabe der Lektorin besteht unter anderem darin, sie vermittels einer Art Perspektivübernahme - der Perspektive der künftigen Leserschaft - zu lesen und Hinweise zu geben, wie sie sich eventuell noch verbessern lassen. Das ist in erster Linie eine Dienstleistung, die die Autorinnen und Autoren in aller Regel schätzen. Jürgen Habermas bildet da nach meinem Eindruck keine Ausnahme, sondern ist im Gegenteil für Anregungen ausgesprochen offen, ja, er fordert sie sogar ein. Das bedeutet natürlich nicht, dass er alle meine Vorschläge übernimmt. Niemand macht das, und es wäre ja auch seltsam, wenn dem so wäre. Ehrlich gesagt: Das Arbeitsverhältnis unterscheidet sich nicht wirklich von dem zu anderen Autorinnen und Autoren. Natürlich ist mir bewusst, mit wem ich es zu tun habe, aber es bringt überhaupt nichts, in irgendeiner Ehrfurchtshaltung zu erstarren. Der Autor Habermas hat seine Arbeit gemacht, und ich mache dann meine. Das läuft alles komplett professionell und getragen von wechselseitigem Respekt ab. So empfinde ich es jedenfalls. Zu den Kommafehlern kann ich nur sagen: Machen wir alle.

Sind Sie selber Philosophin oder haben Philosophie studiert, um Habermas' Texte bearbeiten zu können?

Es ist ja nicht ganz einfach zu sagen, wann oder aufgrund welcher Eigenschaft man Philosophin ist. Aber, ja: Ich habe Philosophie im Hauptfach studiert (in Frankfurt am Main, aber nicht bei Habermas). Über eine philosophische Ausbildung zu verfügen, ist ganz generell und aus verschiedenen Gründen gewiss nicht von Nachteil, wenn man als Lektorin in der Welt von Suhrkamp Wissenschaft unterwegs ist, die ja nicht nur aus Jürgen Habermas und bei weitem nicht nur aus Philosophie besteht, auch wenn diese sicherlich einen unserer Schwerpunkte bildet. Aber die Vorstellung, man müsse in philosophischer Hinsicht auf Augenhöhe mit dem Autor sein, um seine Texte bearbeiten zu können, geht an der Sache vorbei. Es ist unmöglich und wäre nicht nur als Anspruch vermessen, sondern auch der verkehrte Ansatz. Jürgen Habermas hat eine Vielzahl hochkarätiger philosophischer Gesprächspartner, mit denen er die ihn interessierenden Fragestellungen über längere Zeiträume diskutiert. Um philosophische Argumente zu prüfen, braucht er mich nicht; und ich könnte das auch gar nicht auf dem erforderlichen Niveau leisten. Meine Rolle ist eine andere, nämlich dafür zu sorgen, dass aus einem Text ein Buch wird. Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt ist hierbei nur ein Aspekt unter vielen anderen. Im Übrigen: Ich bin nicht die einzige Person im Verlag, die mit ihm arbeitet. Mein Kollege Heinrich Geiselberger, der unter anderem für die edition suhrkamp zuständig ist, betreut Habermas' politisch eingreifende Bücher - "Zur Verfassung Europas" zum Beispiel - und ist von Haus aus Soziologe.

In welchem Zustand kommen die Manuskripte bei Ihnen an und wie lange dauert es, bis Habermas eine Publikation wie "Auch eine Geschichte der Philosophie" fertigstellt?

Auf den ersten Teil der Frage möchte ich am liebsten antworten: In Form von Word-Dateien, die via E-Mail übermittelt werden. Aber natürlich meinen Sie etwas anderes. Dazu möchte ich nur sagen: Wir haben es hier mit einem extrem erfahrenen Autor zu tun, der sich seit vielen Jahrzehnten schreibend mitteilt, nicht nur in Büchern, sondern auch in Zeitungsartikeln. Man kann über seinen Stil geteilter Meinung sein, aber zweifelsohne hat er einen, und diesen ausgeprägten Personalstil vermag er virtuos auch über sehr lange Textstrecken und große gedankliche Bögen hinweg auszuspielen. Mir persönlich gefällt, wie er schreibt; und die gedankliche und sprachliche Kontrolle, die in "Auch eine Geschichte der Philosophie" - immerhin ein Buch mit mehr als 1700 Seiten - über den Gegenstand ausgeübt wird, beeindruckt mich.

Zur Entstehungsdauer kann ich leider keine belastbaren Fakten beisteuern, weil er mir nicht mitteilt, wann er mit dem Schreiben beginnt. Im Vorwort von "Auch eine Geschichte der Philosophie" spricht er von einer "länger als ein Jahrzehnt währenden Beschäftigung mit demselben Thema".

Jürgen Habermas
Jürgen HabermasBild: picture-alliance/dpa

Lektorieren Sie auch andere Philosophen für den Suhrkamp Verlag?

Natürlich, ganz viele. Und auch Soziologinnen, Anthropologen, Hirnforscher, Literaturwissenschaftlerinnen, Historiker … Sie wollen bestimmt keine Namensliste von A wie Adorno bis Z wie Žižek hören. Und ganz ehrlich: Wir reden zu viel über mich! Zum einen ist der Lektor nach meiner Auffassung ein Hintergrundmensch, zum anderen gibt es im Verlag noch andere, die auch Philosophinnen, Soziologen usw. lektorieren.

In welchen Ländern wird Jürgen Habermas übersetzt? Wohin lassen sich seine Ideen am besten "exportieren"?

Ich habe mit meiner Kollegin Petra Hardt gesprochen, die alles darüber weiß, weil sie seit Jahrzehnten mit der weltweiten Verbreitung dieses Werks befasst ist. Jürgen Habermas' Schriften wurden bislang in 40 Sprachen übersetzt - von Albanisch bis Ungarisch. Erste Übersetzungen, zumeist von Einzeltexten, sind zwar schon in den 1960er Jahren erschienen, 1970 lag die italienische Übersetzung von "Erkenntnis und Interesse" vor, um nur ein Beispiel für die Frühphase der internationalen Verbreitung zu nennen. So richtig global wurde es dann aber in zwei großen Wellen. Die erste ging in den 1980er Jahren von den USA aus - ganz wichtig war die englische Übersetzung der "Theorie des kommunikativen Handelns" durch Thomas McCarthy, deren erster Band 1984 erschien –, und schwappte auf die skandinavischen Staaten und Japan sowie, mit etwas Verzögerung, auf Frankreich über. Die zweite Welle beobachten wir seit 1998 - mit einer enorm starken Rezeption in China sowie einer großen Nachfrage in Russland und den arabischen Ländern. Und weil das Gesamtwerk nun in englischer und französischer Sprache vorliegt, steigen mittlerweile auch in Afrika die Verkaufszahlen seiner Werke. Es ist kein Zufall, dass Habermas' Schriften gerade dort verstärkt auf Interesse stoßen oder entdeckt werden, wo sich mächtige Strukturwandlungsprozesse vollziehen. 

Die Deutsche Welle hat Leser in der ganzen Welt. Würden Sie Habermas' Thesen auch für philosophieunkundige Menschen verständlich zusammenfassen?

Dieser Bitte nachzukommen, ist mit der Gefahr entstellender Vereinfachung verbunden, wie Sie sich denken können. Jürgen Habermas' Werk ist sehr komplex und greift in viele Richtungen aus. Grob verallgemeinernd kann man vielleicht sagen, dass sein theoretisches Vorhaben in der Tradition der Aufklärung steht, die die Moderne prägt. Von dieser sagt Habermas, sie sei ein "unvollendetes Projekt". Aufklärung ist Vernunftgebrauch, und dieser Vernunftgebrauch hat nach Habermas eine bestimmte Form und einen bestimmten Ort. Die Form ist der Dialog, Habermas spricht von Diskursen, und der Ort oder die Sphäre, wo sie ausgetragen werden, ist die Öffentlichkeit. Läuft alles unter optimalen Bedingungen ab - alle Betroffenen werden gehört, alle relevanten Perspektiven kommen zur Sprache, es wird kein Zwang ausgeübt, die Diskursteilnehmer orientieren sich allein an guten Gründen und am Ziel der Verständigung -, übt sich die Gesellschaft in der gemeinsamen Praxis der Selbstaufklärung und schöpft damit ein Potenzial aus, das ihren Verständigungsprozessen immer schon innewohnt: das Potenzial zur Emanzipation. Werden diese Bedingungen hingegen untergraben - durch Fake-News, bloße Meinungsmache und Manipulation, den autoritären Ausschluss relevanter Personen und Perspektiven oder auch durch pure systemische Macht, wie sie zum Beispiel ein ungezügelter Kapitalismus ausübt –, müssen wir aufpassen.

Sehr vereinfacht und zugespitzt gesagt: Gerät die Praxis des so verstandenen öffentlichen Diskurses in Gefahr, steht die Vernunft selbst und mithin der Prozess der vernünftigen Einrichtung unserer Angelegenheiten auf dem Spiel. Wichtig ist: Habermas' Blick auf unsere Gesellschaft erschöpft sich nicht in deren bloßer Beschreibung; er konfrontiert diese aber auch nicht mit utopischen Gegenentwürfen. Vielmehr gewinnt er in der Analyse sozialer Lernprozesse gerade die Maßstäbe, an denen sich die bestehenden Verhältnisse messen und gegebenenfalls kritisieren lassen müssen. Letzteres hat er selbst in zahlreichen Publikationen mit Blick auf diverse aktuelle Problemstellungen nachdrücklich getan. Daher empfehle ich mit Nachdruck die Lektüre seiner Schriften, von denen viele aus meiner Sicht auch für philosophieunkundige Menschen zugänglich sind.

Eva Gilmer ist Programmleiterin Suhrkamp Wissenschaft/Sachbuch und arbeitet seit Anfang der 2000er Jahre als Übersetzerin und Lektorin für wissenschaftliche Texte.

Das Gespräch führte Sabine Oelze.

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion