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Kanzler Olaf Scholz greift im Bundestag an

7. September 2022

Reichen 65 Milliarden, um das Land durch die Krise zu bringen? Regierung und Opposition streiten im Bundestag. Erneut wird klar: Deutschland stehen schwere Zeiten bevor.

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Bundeskanzler Olaf Scholz steht in einem dunklen Anzug mit dunkelroter Krawatte am Rednerpult im Bundestag. Das Foto zeigt ihn sichtlich emotional sprechend, wobei er auch seinen rechten Arm erhebt und einsetzt
Meistens spricht Olaf Scholz sehr leise, doch im Bundestag wurde er lautBild: Markus Schreiber/AP/picture alliance

Der Herbst ist da, die Nächte werden kühler. Der Gasverbrauch habe sich zuletzt leicht erhöht, warnt der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller: "Ob es im Winter ohne Rationierungen klappt, steht und fällt mit dem Verhalten der privaten Haushalte." Manche Bürger hätten wohl noch nicht erfasst, dass sie ihre Heizung neu einstellen müssen, damit sie erst anspringt, wenn es richtig kalt wird.

Was in der Hitze des Sommers noch vage schien, trifft Deutschland nun mit aller Wucht. Russland hat die Gaspipeline Nord Stream 1 zugedreht. Die Energiepreise kennen nur noch eine Richtung: nach oben. Von einer "existenziellen Krise" spricht der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz im Bundestag und fordert, dass im Kanzleramt ein Energie-Sicherheitsrat eingerichtet werden müsse: "Die Lage spitzt sich in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten möglicherweise dramatisch zu."

"Sind die Deutschen verrückt geworden?"

Als Chef der größten Oppositionspartei nutzt Merz die Haushaltsdebatte im Bundestag, um die Regierung frontal anzugreifen. Vor allem den grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der gerade bekannt gegeben hat, dass die letzten Atomkraftwerke wie geplant Ende des Jahres ihren Betrieb einstellen und lediglich zwei in stiller Reserve bleiben sollen. "Die ganze Welt schaut auf Deutschland und sagt: Sind diese Deutschen eigentlich verrückt geworden, in einer solchen Situation drei Kernkraftwerke stillzulegen, die in der Lage wären, zehn Millionen Haushalte sicher mit Strom zu versorgen?"

CDU-Chef Friedrich Merz steht in einem blauen Anzug im Bundestag am Rednerpult und hat seine rechte Hand mit aufgerichtetem Zeigefinder erhoben
CDU-Chef Friedrich Merz griff die Regierung im Bundestag scharf anBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Die Entscheidung gegen die Atomkraft beruhige mit Blick auf die bevorstehende Landtagswahl in Niedersachsen vielleicht die grüne Basis, beschädige "möglicherweise aber unwiderruflich den gesamten Wirtschaftsstandort." Viele Unternehmen hätten die Auftragsbücher so voll wie schon seit Jahren nicht mehr, könnten ihre Aufträge aber nicht abarbeiten. "Das hat etwas mit der Inflationsrate und der Geldentwertung und den Lieferketten zu tun."

Habeck und die Insolvenz

Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Wirtschaftsminister müssen sich von der Regierungsbank aus anhören, wie Merz der Bundesregierung unterstellt, ihr fehle wirtschaftspolitisch "jeder Kompass" und "die Fähigkeit zum strategischen Denken". Der Wirtschaftsminister wirke "hilflos", so Merz, der genüsslich auf einen TV-Auftritt Habecks verweist, in dem dieser auf die Frage, ob er mit einer Insolvenzwelle am Ende dieses Winters rechne, geantwortet hatte: "Nein, das tue ich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass bestimmte Branchen einfach erstmal aufhören zu produzieren."

Dem Bundeskanzler kann der unglückliche Auftritt seines Wirtschaftsministers nicht gefallen haben, doch im Bundestag lässt er sich davon nichts anmerken. Vehement verteidigt er die Politik seiner Regierung und legt dabei einen Auftritt hin, der erstaunt. Nur kurz hält er sich an sein Redemanuskript und zählt in gewohnt sachlicher Detailtreue auf, worauf sich SPD, Grüne und FDP am Wochenende in ihrem Entlastungspaket geeinigt haben.

Kanzler unter Strom

Doch dann redet sich Scholz zunehmend in Rage, die Stimme wird lauter, die Arme kommen zum Einsatz. Der Sozialdemokrat schwenkt seine geballte Faust auf und nieder. Nichts ist mehr vom emotionslosen, ja manchmal roboterhaft wirkenden "Scholzomat" zu sehen, als er CDU und CSU vorwirft, Deutschland unter ihrer Regierung abhängig von russischer Energie gemacht zu haben.

"Sie waren unfähig, den Ausbau der erneuerbaren Energien herbeizuführen. Sie haben Abwehrkämpfe geführt gegen jede einzelne Windkraftanlage", sagt Scholz und zeigt dabei auf die Sitzreihen von CDU und CSU. Die Union habe nicht einmal die systematisch leer laufenden Gasspeicher bemerkt.

"Das ist unverantwortliche CDU-Politik, die uns in die jetzige Situation gebracht hat", so Scholz. Die Regierungsbeteiligung der SPD in der großen Koalition unter Angela Merkel erwähnt er nur am Rand. Als Finanzminister habe er bereits den Bau von LNG-Terminals angeregt, erinnert sich Scholz.

Strom- und Gaspreisdeckel sollen kommen

Die Ampel-Regierung habe dafür gesorgt, dass die Gasspeicher schon wieder gefüllt seien und sie werde auch dafür sorgen, die Energiepreise zu senken, argumentiert Scholz unter Verweis auf die Diskussion über einen Strom- und Gaspreisdeckel auf europäischer Ebene und den Bau der LNG-Terminals. "Wir werden wohl durch den Winter kommen", betont der Kanzler und fügt hinzu, man werde "in großer Geschwindigkeit unabhängig von Energie aus Russland werden".

Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck sitzen nebeneinander auf der Regierungsbank im Bundestag und reden miteinander. Habeck hält eine Brille in der Hand, Scholz fasst sich mit seiner rechten Hand an sein Kinn
Zusammenhalt in schweren Zeiten: Kanzler Olaf Scholz (re.) und Wirtschaftsminister Robert HabeckBild: Sean Gallup/Getty Images

Eine halbe Stunde redet der Bundeskanzler und begeistert mit seiner plötzlichen Emotionalität auch die eigenen Reihen so sehr, dass einige SPD-Abgeordnete am Ende im Stehen applaudieren. "Wir sind in einer Zeit, in der viele sehr aufgeregt sind, ich zähle nicht zu diesen", hatte Scholz noch am Wochenende in einem ZDF-Interview betont. Dass seine Emotionen nun doch sichtbar hochkochen, zeigt, wie sehr der Kanzler und sein Kabinett unter Druck stehen.

Die Koalition streitet und jeder kann es sehen

Mit immer größerer Geschwindigkeit wird aus der Energiekrise eine Wirtschaftskrise, die das Land in eine Rezession zu ziehen droht. 65 Milliarden Euro will die Ampel locker machen, um wenigstens die größten Härten abzufedern. Aber reicht das?

Grünen-Co-Chef Omid Nouripour, Kanzler Olaf Scholz, Finanzminister Christian Lindner und SPD-Co-Chefin Saskia Esken sitzen nebeneinander bei der Pressekonferenz nach dem Koalitionsausschuss am Sonntag
Bundesfinanzminister Christian Lindner (2.v.r.) will die Atomkraftwerke weiter laufen lassen und sagt das deutlichBild: Frederic Kern/Future Image/IMAGO

Auch innerhalb der Regierung gibt es Zweifel und zwischen den Koalitionären herrscht keineswegs Einigkeit über den richtigen Weg durch die Krise. Die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, von der FDP gefordert, von den Grünen vehement abgelehnt, ist nur ein Beispiel.

Neidische Blicke auf die Grünen

Dazu kommen die sinkenden Umfragewerte insbesondere für die SPD. Die Bundestagswahl haben die Sozialdemokraten mit 25,7 Prozent gewonnen, aktuell liegt die SPD in der Wählergunst bei rund 17 Prozent. Auch die FDP hat Federn lassen müssen. Die Grünen hingegen haben in den neun Monaten seit der Regierungsübernahme deutlich gewonnen und sind in den Umfragen stärker als die SPD. In der Koalition führt das durchaus zu Eifersüchteleien. Immer wieder gab es in den vergangenen Wochen verbale Scharmützel selbst führender Koalitionäre gegeneinander.

Öffentlich hält sich Olaf Scholz aus den Streitereien heraus, doch es ist davon auszugehen, dass er hinter den Kulissen auf Einigkeit drängt, zumal am 9. Oktober in Niedersachsen gewählt wird. Das ist zwar eine Landtagswahl, aber erfahrungsgemäß können sich Streitereien auf Bundesebene negativ auswirken. Spätestens danach wird der Streit über die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke weitergehen. Zumal der Herbst dann wirklich da ist und nicht nur die Nächte kühler werden.