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Der Geist von Sarajevo

Die Fragen stellte Aya Bach7. August 2012

Sarajevo fordert das Erzählen heraus, sagt Dževad Karahasan im Gespräch mit der Deutschen Welle. Der Autor ist Wanderer zwischen Bosnien, Österreich und Deutschland - und Träger der Goethe-Medaille 2012.

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Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan
Schriftsteller Dzevad KarahasanBild: picture-alliance/dpa

DW: Herr Karahasan, zuletzt ist auf Deutsch Ihr Essay-Band "Die Schatten der Städte" erschienen. Darin beschreiben Sie Ihre bosnische Heimatstadt Sarajevo als eine Stadt, die das Erzählen geradezu herausfordert. Woran liegt das?

Dževad Karahasan: Ich glaube, es gibt mehrere Erklärungen. Einerseits zeigt sich die Geschichte besonders intensiv in Sarajevo. Diese kleine Stadt ist seit ihrem Bestehen mehrere Male verbrannt, belagert, beinahe vernichtet worden. Andererseits leben in Sarajevo seit Gründung der Stadt mehrere Konfessionen, mehrere Ethnien, mehrere Sprachen zusammen - miteinander, nebeneinander, gegeneinander -, so dass man sich dort seiner kulturellen Identität immer bewusst ist. Und der steten Anwesenheit des Anderen genauso.

Ist es auch das, was Sie selbst zum Erzählen über Sarajevo getrieben hat? Die Präsenz des Anderen, die die eigene Identität so deutlich macht?

Ich glaube schon. Auf jeden Fall hat diese Stadt bei mir eine Distanz von mir selbst erzeugt. Und seit ich erzähle, bewusst erzähle, versuche ich, Sarajevo zu erzählen.

Sarajevo: Die Stadt der vielen Stimmen
Sarajevo: Die Stadt der vielen StimmenBild: DW

Sie sind 1993, während des Krieges, aus Bosnien geflohen. Inzwischen leben Sie abwechselnd in Sarajevo und im österreichischen Graz, auch anderen Orten. Ist auch diese Distanz zu der Stadt wichtig, um sich ihr gewissermaßen wieder zu nähern?

Aber ja! Denn Geist erzeugt per definitionem eine Distanz von sich selbst. Träume von einem paradiesischen Zustand, die unsere Kultur seit dem Hellenismus immer wieder träumt, sind im Grunde genommen Träume von einem geistlosen Zustand, von einer Geistlosigkeit, von einer Identität mit sich selbst. Das geht leider nicht, solange wir Menschen sind, auch geistige Wesen. Denn Geist erzeugt Distanz und ein gewisses Bewusstsein von sich.

Das würde ja - verkürzt gesagt - bedeuten, dass man verblödet, wenn man in den paradiesischen Zustand eingetreten ist?

Ganz genau.

Wie wichtig ist dann das Leben an unterschiedlichen Orten, in verschiedenen Sphären für Ihren Geist, für Ihr Schreiben?

Diese räumliche Distanz ermöglicht es mir, Sarajevo genauer und richtiger zu erleben, anzuschauen und - so hoffe ich - zu beschreiben. Denn wenn man eine gewisse Distanz zu etwas hat, kann man es genauer sehen, besser begreifen. Insofern ist es für mich sehr produktiv, gelegentlich diese Stadt zu verlassen, um sozusagen naiver, offener zurückzukehren.

Haben Sie nicht schon als Kind etwas Ähnliches erlebt? Sie sind als Muslim geboren, haben eine christliche Erziehung erhalten und haben das vielleicht auch schon als ein Stück Distanz erlebt - oder wie war das?

Ich besuchte sehr oft das Franziskanerkloster, um bei einem Franziskaner Latein und Griechisch zu lernen. Aber ich kommunizierte sehr intensiv mit ihnen, so dass ich sozusagen in drei Welterlebnissen herangewachsen bin (lacht). Denn mein Vater war ein tiefgläubiger Kommunist, meine Mutter eine Muslima, sehr viele Freunde von mir, auch Lehrer, waren Franziskaner. Sie haben recht: Ich konnte eigentlich nicht ohne Distanz zu mir selbst erwachsen. Denn schon damals, als junger Mann, war ich mir der menschlichen Komplexität sehr wohl bewusst.

Sarajevo bei Nacht (März 2012), Copyright: DW
Minarett und Uhrturm in SarajevoBild: DW

Genau das hat Sie später im Lauf Ihres schriftstellerischen Lebens zu einem Brückenbauer gemacht – und das ist auch ein Grund, warum Sie jetzt die Goethe-Medaille erhalten. Haben Sie sich denn schon früh als ein Brückenbauer gefühlt?

Ehrlich gesagt, nicht. Für mich ist es vollkommen normal, dass die Menschen, eben weil sie mit Geist beschenkt wurden - oder durch den Geist verflucht worden sind - in mehreren Kulturen leben und sich ihrer Identität als ein fließendes Phänomen bewusst sind.

Für Sie ist es selbstverständlich, aber offensichtlich für viele andere nicht - sonst würde es sich beinahe erübrigen - so viel vom Dialog der Kulturen zu sprechen. Haben wir tatsächlich einen solchen Dialog?

Ich glaube schon. Seit jeher gibt es Menschen, die Macht ausüben möchten. Sie produzieren Ängste, Missverständnisse. Denn am einfachsten ist es, verängstigte Menschen zu regieren und zu beherrschen. Angst ist das beste Instrument zur Versklavung der Menschen. Aber seit jeher gibt es auch Menschen, die ihr Leben leben möchten, ohne Machtansprüche und ohne Angst vor der Macht. Diese Menschen führen sehr wohl einen Dialog. Ein Dialog der Kulturen dauert ununterbrochen an. Er wird gelegentlich durch absichtlich produzierte Ängste gestört. Aber er dauert an.

Wie wurden Sie denn aufgenommen, als Sie aus Bosnien nach Deutschland und Österreich geflohen sind? Wie wurden Sie willkommen geheißen?

Ich bin sehr freundlich und gut aufgenommen worden. Im bayrischen München hatte ich mit der Gruppe "Journalisten helfen Journalisten" zu tun. Diese Leute kommunizierten wunderbar mit mir. Danach kam eine Professur im österreichischen Salzburg - im Großen und Ganzen hatte ich keine Probleme. Selbstverständlich war es extrem umständlich, mit einem bosnischen Pass zu reisen, denn jeder fürchtete, ich wollte mich als Flüchtling verkaufen. Einmal bin ich nach Frankreich zur Präsentation meines Buches buchstäblich im Auto geschmuggelt worden, weil ich kein Visum bekommen konnte.

Sie haben später auch angefangen auf Deutsch zu schreiben - was hat dazu den Anstoß gegeben?

Ich schreibe sehr selten auf Deutsch, kleine Artikel, die von meiner Lektorin oder anderen Muttersprachlern korrigiert werden. Deutsch ist eine viel zu komplexe Sprache. Ich mag diese Sprache allzu sehr, um auf Deutsch Prosa oder Dramen zu können oder zu wollen. Denn wenn ich versuchte, Deutsch zu schreiben, wären das, ehrlich gesagt, Vereinfachungen. Ich fürchte Vereinfachungen mehr als alles andere.

Dennoch drücken Sie sich auf Deutsch brillant aus. Ist diese Sprache eine zweite Heimat für Sie geworden?

Eigentlich ja. Viele Autoren, die ich sehr mag und immer wieder lese, sind deutschsprachig: Büchner, Kleist, Goethe, E.T.A. Hoffmann - es gibt Autoren, die ich zuerst in meiner Muttersprache gelesen habe, danach auf Deutsch oder umgekehrt. All diese Autoren liebe ich jetzt in zwei Varianten- Die Techniker versuchen uns weiszumachen, das Wort sei vor allem ein Informationsträger und Sprache ein Verständigungsmittel. Nein! Sprache ist viel mehr. Sprache ist geistige Heimat. Wir Menschen verstehen, wir empfinden und fühlen die Welt so, wie sie uns durch unsere Sprache dargestellt wird.

Dževad Karahasan, geboren 1953, ist der bedeutendste bosnische Schriftsteller seiner Generation. Er schreibt Romane, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Am 28. August 2012 erhält er in Weimar die Goethe-Medaille. Die Auszeichnung wurde 1954 vom Vorstand des Goethe-Instituts gestiftet und ist seit 1975 von der Bundesrepublik als offizieller Orden anerkannt. Karahasan hat seit seiner Flucht aus dem umkämpften Sarajevo eine enge Beziehung zur deutschen Sprache. Er war bereits Gastdozent in Salzburg, Lektor in Göttingen, als DAAD-Stipendiat in Berlin und Stadtschreiber von Graz. Er wird für sein Engagement für die europäische Verständigung und als Brückenbauer zwischen den deutschsprachigen Ländern und Bosnien geehrt.