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Kein Ende der IS-Morde an den Jesiden

Andreas Gorzewski16. Juni 2016

Seit knapp zwei Jahren tötet und versklavt der IS kurdische Jesiden im Irak. Obwohl der internationale Druck auf die Terrormiliz wächst, sehen Jesiden keinen Grund zum Aufatmen.

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Vor den IS-Kämpfern sind in den vergangenen zwei Jahren hunderttausende Jesiden geflohen (Foto: Anadolu Agency)
Vor den IS-Kämpfern sind in den vergangenen zwei Jahren Hunderttausende Jesiden geflohenBild: picture-alliance/AA/E. Yorulmaz

Die irakische Jesidin Nadia Murad hat die brutale Gewalt des "Islamischen Staates" (IS) am eigenen Leib erlebt. Sie war drei Monate lang Sexsklavin in der Gewalt der Terrormiliz, während Tausende Jesiden bei Massakern oder auf der Flucht ums Leben kamen. Seit ihrer Freilassung kämpft sie dafür, dass die Gräuel des IS international als Völkermord eingestuft werden. Dazu hielt sie bereits vor dem UN-Sicherheitsrat eine Rede.

Noch vor wenigen Tagen lieferte die Extremistenorganisation ihr neue Argumente. IS-Schergen verbrannten nach Augenzeugenberichten öffentlich 19 Jesidinnen, die sie sich gegen ihre Vergewaltigung gewehrt haben sollen. Rückendeckung für ihre Mission bekam Murad nun durch den Bericht einer UN-Kommission, die der Extremistenorganisation Genozid verwirft.

Auch die prominente Menschenrechtsanwältin Amal Clooney schaltete sich ein. Die Ehefrau des Hollywood-Stars George Clooney will erreichen, dass IS-Führern vor dem Internationalen Strafgerichtshof der Prozess gemacht wird.

Der in Genf vorgestellte Bericht der UN-Untersuchungskommission prangert andauernde Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Terrorgruppe an. Der "Islamische Staat" wolle die Jesiden vernichten, erklärten die Experten nach Interviews mit Überlebenden, religiösen Vertretern, Juristen und Mediziner. Die Autoren des Berichts listen wahllose Morde, Menschenhandel, Zwangskonversionen, Folter und andere Gräuel auf.

Die Tragödie der Religionsgemeinschaft mit kurdischen Wurzeln hatte sich im August 2014 zugespitzt. Damals waren IS-Kämpfer in das Sindschar-Gebirge im Nordwesten des Irak vorgedrungen. Dort lebten viele der etwa 600.000 Jesiden im Land. Die kurdischen Peschmerga-Einheiten, die die Jesiden eigentlich schützen sollten, flohen vor den besser bewaffneten Kriegern unter der schwarzen IS-Flagge. Bei Massakern und auch auf der Flucht starben Tausende.

Keine religiösen Schutzrechte

Der Hass der sunnitischen IS-Extremisten auf die Jesiden ist besonders groß. Die Anhänger der altorientalischen Religion habe aus IS-Sicht kein heiliges Buch und damit auch keine Schutzrechte, wie sie Christen zumindest in der Theorie haben. Wenn Jesiden dem IS in die Hände fielen, bleibe ihnen oft nur die Wahl zum Islam überzutreten oder zu sterben, erläutert Ahmed Burjus, Vize-Direktor der jesidischen Organisation Yazda mit Sitz in Großbritannien. Die Vereinigung ist auch im Irak und in den USA aktiv.

Diese Jesidinnen kamen 2015 aus IS-Gefangenschaft frei. Tausende sind noch in den Händen der Terrormiliz (Foto. AFP)
Diese Jesidinnen kamen 2015 aus IS-Gefangenschaft frei. Tausende sind noch in den Händen der TerrormilizBild: Getty Images/AFP/S.Hamid

Frauen werden Burjus zufolge am Leben gelassen, um sie als Sexsklavinnen zu missbrauchen. "In der Hand des IS sind immer noch mehr als 3000 jesidische Frauen und Mädchen", sagt der Yazda-Vertreter. Immer wieder können einige von ihnen fliehen oder werden freigekauft. Burjus erinnert auch an das Schicksal der verschleppten Kinder: "Mehr als 1000 jesidische Kinder sind in IS-Trainingslagern, wo sie einer Gehirnwäsche unterzogen werden, um die kommende Generation von Terroristen zu werden."

Doch auch diejenigen, die der unmittelbaren Gefahr durch Gewalt und Gefangennahme entkommen sind, haben wenig Grund zur Hoffnung. Das berichtet Sahap Dag, Generalsekretär des Zentralrats der Jesiden in Deutschland. Er beschreibt die Lage in den früheren Siedlungsgebieten als katastrophal. Es sei unmöglich, in die fluchtartig verlassenen Dörfer zurückzukehren, sagt Dag, der noch im April die Region besuchte. "Häuser und Straßen sind zerstört. Viele haben Angst vor versteckten Minen", berichtet er.

Im Flüchtlingslager Scharya im kurdischen Nordirak haben vor allem Jesiden Zuflucht gefunden. (Foto: dpa)
Im Flüchtlingslager Scharya im kurdischen Nordirak haben vor allem Jesiden Zuflucht gefundenBild: picture-alliance/dpa/S.Järkel

Verlorenes Vertrauen

Heute leben die meisten irakischen Jesiden in Gebieten, die von der kurdischen Regionalregierung gehalten werden. Doch obwohl auch die Jesiden Kurden sind, ist die Beziehung zur Regionalregierung getrübt. Der in Oldenburg lebende Dag meint: "Das Vertrauen ist nicht mehr da." Er wirft der kurdischen Führung in Erbil vor, nichts dagegen zu tun, dass 400.000 Jesiden unter immer schwieriger werdenden Bedingungen in Zeltlagern ausharren müssten.

Der Generalsekretär des Zentralrats der Jesiden erzählt von drei Frauen, die mit ihren Kindern aus der IS-Gefangenschaft freikamen. Nach Monaten in dunklen Verliesen der Extremistengruppe hätten sie keinerlei Hilfe erhalten. Zu zwölft müssten sie nun in einem Zelt von etwa zehn Quadratmeter in einem der Flüchtlingslager im Nordirak hausen.

Von der Welt vergessen

So geht es vielen. Für die jesidischen Flüchtlinge gibt es kaum Arbeit und zu wenig Schulangebote. Auch die Betreuung der vielen traumatisierten Flüchtlinge gilt als völlig unzureichend. Die internationale Gemeinschaft kümmere sich nicht mehr um die Jesiden, kritisiert Dag. "Die Jesiden sind in Vergessenheit geraten", meint er.

Von den nahöstlichen Nachbarstaaten, von der irakischen Regierung in Bagdad und von der kurdischen Regionalregierung in Erbil haben die Jesiden laut Burjus auch nichts zu erwarten. Dort gelte überall das islamische Rechtssystem der Scharia als eine wesentliche Grundlage der Gesetzgebung. Da die Jesiden aber keine Schutzrechte im islamischen Recht hätten, würden sie von Muslimen oft als Ungläubige angesehen und ausgegrenzt.

Trotz der Tragödie wünscht sich Dag, dass die Jesiden in ihrer Ursprungsregion bleiben. "Wir sind nicht dafür, dass sie ihr Land verlassen", sagt er. "Aber wenn es so weitergeht, sehe ich keine Perspektive für Jesiden und auch keine für die Christen vor Ort."