Kind aus Ukraine: Der Kriegshölle und Deportation entkommen
29. April 2024Eines Abends, erzählt Illja, sei er mit seiner Mutter aus dem Keller emporgestiegen. Sie hätten eine Nachbarin um Wasser und ein wenig Essen bitten wollen. Ringsumher habe schon fast alles in Trümmern gelegen, aus allen Richtungen sei Gewehrfeuer zu hören gewesen. "Wir haben es nicht bis zur Nachbarin geschafft", sagt Illja. "In der Nähe schlug eine Rakete ein. Mama fiel auf die Stirn. Am nächsten Tag starb sie."
Illja, elf Jahre alt, erzählt mechanisch. Als ob er etwas auswendig gelernt hätte. Als ob es nicht seine eigene Geschichte wäre.
Der ukrainische Junge Illja stammt aus Mariupol, jener Großstadt im äußersten Südosten der Ukraine, die nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Großinvasion im Land, weltweit zum Symbol des russischen Terrors wurde. Während der dreimonatigen Belagerung Mariupols zerstörte die russische Armee die Stadt fast vollständig und tötete zehntausende Zivilisten. Eine von ihnen war Illjas Mutter Natalija Matwijenko.
Sie starb am 21. März 2022, wenige Wochen vor Illjas neuntem Geburtstag. Illja selbst wurde bei dem Raketeneinschlag am rechten Bein schwer verletzt. Russische Soldaten entdeckten ihn kurz nach dem Angriff und nahmen ihn mit, er kam in ein Krankenhaus in die ukrainische Stadt Donezk, die seit 2014 russisch besetzt ist. Er sollte in eine russische Familie kommen, doch seine Großmutter, die seit 2017 in Uschhorod, der westlichsten Stadt der Ukraine, lebt, holte ihn aus Donezk heraus und brachte ihn zu sich. Bald darauf sagte Illja vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag aus. Seine Zeugenaussage trug zum Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa bei.
Illja ist eines von zehntausenden ukrainischen Kindern, die seit Februar 2022 von russischen Soldaten oder Beamten in den besetzten ukrainischen Gebieten verschleppt wurden. Eine offizielle ukrainische Schätzung geht von rund 19.000 deportierten Minderjährigen aus. Putins Beauftragte Lwowa-Belowa brüstete sich im Sommer 2023 damit, dass russische Behörden bereits 700.000 Kinder aus der Ukraine "gerettet" hätten. Zurückholen konnte die Ukraine bislang nur rund 400 verschleppte Kinder.
Völkermord in der Ukraine
Unabhängig von solchen Zahlen geht es um eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die ukrainische Juristin, Menschenrechtsaktivistin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk spricht von einem Völkermord, den Russland in der Ukraine begehe. "Diese Kriegsverbrechen sind kein Zufall und kein Unfall, sie sind eine Methode Russlands und eine Taktik der russischen Kriegsführung gegen die Ukraine", sagt Matwijtschuk der DW. "Die Kinder kommen in Umerziehungslager, ihnen wird zunächst erzählt, dass sie Russen sind und Russland ihre Heimat ist. Später werden sie dann in russische Familien gebracht. Es ist eine Politik der Eliminierung der ukrainischen Identität und eine genozidale Politik."
Auch Illja hätte dieses Schicksal fast ereilt.
Er war ein normaler ukrainischer Junge und führte bis zum Februar 2022 ein normales Kinderleben in Mariupol. Er wohnte mit seiner alleinstehenden Mutter in einem Haus am östlichen Stadtrand Mariupols und ging in die dritte Klasse. Er sagt, in seiner Freizeit sei er gern ins Kino gegangen und habe zusammen mit einem Onkel gern im Park gespielt.
"Evakuierung" in von Russland besetzte Gebiete
Am zweiten Tag nach dem russischen Angriff auf Mariupol floh er mit seiner Mutter in die Innenstadt. Sie hätten dann einige Tage in einem Hotel gewohnt, später in einem Luftschutzkeller, erzählt Illja. Irgendwann hätte die Mutter entschieden, auf der Suche nach Nahrungsmitteln zum Haus am Stadtrand zurückzukehren. Dort sei fast alles zerstört gewesen, sie hätten aber ein anderes Haus mit einem heilen Keller und mit einigen Nahrungsmitteln gefunden, dort hätten sie sich einige Tage versteckt - bis zu jenem verhängnisvollen Abend, als sie zur Nachbarin gegangen seien.
Illja erzählt, nach dem Raketeneinschlag sei die Nachbarin gekommen und hätte die schwerverletzte Mutter und ihn in ihre Wohnung getragen. Er sagt, er erinnere sich nicht mehr genau, wie es war, als seine Mutter starb. Konnte er noch mit ihr sprechen? Illja schüttelt den Kopf. Dann sagt er, dass am nächsten Tag russische Soldaten gekommen seien. Sie hätten einfach nur gesagt: Evakuierung! Und ihn mitgenommen. "Die Fahrt ins Krankenhaus nach Donezk war schrecklich", erzählt Illja. "Mein verletztes Bein tat so weh, dass ich es gar nicht beschreiben kann."
Im Krankenhaus wurde Illjas Bein operiert. Er habe gesagt, dass er eine Großmutter habe, die ihn abholen könne, erzählt Illja, aber nach ein paar Tagen hätten ihm Leute im Krankenhaus gesagt, sie könnten ihn nach Moskau bringen, zu einer neuen Familie. "Ich habe nichts geantwortet", sagt Illja, "denn ich wusste nicht, ob sie mir etwas antun, wenn ich widerspreche."
Die Odyssee der Großmutter
Im Krankenhaus seien viele ukrainische Kinder gewesen, es seien auch Journalisten gekommen und hätten gefilmt, berichtet Illja. Durch Zufall sah Illjas Großmutter Olena Matwijenko in sozialen Netzwerken einen Filmausschnitt, in dem ihr Enkel auftauchte. Sie rief sofort im Krankenhaus an und sagte, sie werde ihren Enkel abholen. Kurz darauf machte sie sich auf den Weg ins besetzte Donezk - vom westukrainischen Uschhorod aus über Polen, Litauen, Belarus und Russland.
Es war eine Odyssee, über die Olena Matwijenko nur wenige Einzelheiten erzählen darf - damals wurde die Rückkehr Illjas und eines weiteren Mädchens mit Hilfe der ukrainischen Regierung und eines russischen Geschäftsmannes organisiert. Um mögliche weitere Rettungen nicht zu gefährden, darf nur soviel bekannt werden: Illja und seine Großmutter gelangten Ende April 2022 über die Türkei zurück in die Ukraine. "Ich habe geweint, als ich mit meinem Enkel die Grenze zur Ukraine überschritten habe", sagt Olena Matwijenko.
"Ich muss erzählen"
In der Ukraine kam Illja zunächst zur Rehabilitation in ein Krankenhaus nach Kyjiw. Dort fragte ihn eine Beraterin des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, ob er bereit wäre, seine Geschichte vor Ermittlern des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag zu erzählen. Illja willigte ein. Seitdem hat er nicht nur dort ausgesagt, sondern auch vor Vertretern der UN. Und er hat mit zahlreichen westlichen Politikern gesprochen, darunter in den USA und in Deutschland. "Ich habe verstanden, dass ich das machen muss", sagt Illja. "Damit keine Gleichgültigkeit aufkommt, damit sie wissen, dass es keine Märchen sind, sondern dass es wirklich passiert ist."
Schmerzt es nicht zu sehr, die Geschichte jedes Mal neu zu erzählen? "Nein", sagt Illja, "ich habe verstanden, dass es mein Schicksal ist und deshalb weine ich nicht. Ich habe noch nie geweint, wenn ich es erzählt habe." Er sagt es wie ein Erwachsener und wie aus weiter Ferne. Und er fügt hinzu, dass seine Großmutter immer weine, wenn sie erzähle.
"Vielleicht sterbe ich. Es ist doch Krieg"
Die 65-Jährige ist eine herzliche Frau. Sie war ihr Leben lang Arbeiterin in Mariupol, darunter im Stahlwerk Azovstal, das 2022 zum Symbol des Widerstands gegen die russischen Besatzer wurde. Sie hatte vier Kinder. Ein Sohn fiel 2014 im Kampf gegen die russischen Besatzer in der Ostukraine. Nachdem ihre einzige Tochter 2022 ums Leben kam, bleiben ihr zwei Söhne. Und ihr Enkel Illja. Sie selbst zog schon 2017 aus Mariupol ans andere Ende der Ukraine, nach Uschhorod, weil sie möglichst weit weg wollte vom damaligen Kriegsgeschehen in den so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Sie bekommt eine Rente von umgerechnet 67 Euro im Monat. Davon spendet sie jeden Monat einen Teil an die ukrainischen Streitkräfte. "Ich würde die Ukraine um nichts in der Welt eintauschen", sagt sie, "aber es wäre schön, wenn wir ein bisschen mehr Rente bekämen."
Illja und seine Großmutter wohnen in Uschhorod in einer Art Gemeinschaftswohnung, es gibt kein eigenes Bad. Sie wünschen sich ein richtiges Badezimmer mit Dusche und würden am liebsten in einem eigenen kleinen Haus wohnen. Illja sagt: "Ich habe Sehnsucht nach dem Meer, nach der Pizza, die ich früher jeden Tag auf dem Schulweg gekauft habe, und nach der Stadt. Und natürlich auch nach meiner Mutter. Gott schenke ihr Frieden."
Illja sagt, er glaube nicht, dass der Haftbefehl gegen Putin irgendetwas bringe. "Er ist ein Idiot, aber immerhin weiß er, dass er nicht mehr überall hinreisen kann." Illja selbst möchte, wenn er groß ist, Arzt werden. "Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann, denn ich habe das Syndrom der Hoffnungslosigkeit. Aber es wäre mein Traum. Vielleicht sterbe ich aber auch morgen. Es ist doch Krieg."