Kindermorde von Solingen: "Uns fehlen die Worte"
4. September 2020"Eigentlich hat man keine Worte", sagt Luciano. Der 47-Jährige ist mit seiner Tochter in die Hasselstraße in Solingen gekommen, wo Polizisten gerade eine Absperrung vor dem grauen Mehrfamilienhaus entfernt haben, in dem am Donnerstag fünf tote Kinder gefunden wurden. "Ich bin selbst Vater, aber ich glaube, man muss nicht unbedingt Vater sein. Das hat mich sehr mitgenommen. Das ist ein ganz schlimmer Fall," sagt Luciano, bevor er vor dem Wohnblock Rosen und eine Kerze ablegt und seine jugendliche Tochter umarmt.
Immer wieder bleiben an diesem regnerischen Nachmittag am Tatort Menschen stehen, um Anteil zu nehmen. Nicht alle kommen aus dem Stadtteil Hasseldelle, in dem laut dem Nachbarschaftsverein "Wir in der Hasseldelle" rund 3000 Menschen aus mehr als 50 Nationen leben. Ein Mann, der sich für kurze Zeit vor das Haus stellt, weint hörbar, bevor er in ein Auto steigt und wieder wegfährt.
"Das geht einfach nicht in meinen Kopf"
"Es ist unwirklich", sagt die 19-jährige Kira, die mit einer Freundin hierhin gekommen ist, um rote Kerzen abzustellen. "Man stellt sich schon die Frage, wie so etwas passieren kann, vor allem in Deutschland, wo es ja wirklich tausende Möglichkeiten gibt, sich Hilfe zu holen. Ob man selbst Probleme hat, mit den Kindern Probleme hat, es gibt ja wirklich viele Anlaufstellen. Was in einem Kopf oder einem Menschen passieren muss, um sowas zu tun, das verstehe ich einfach nicht."
Auch Nachbarn sind erschüttert. Priscilla Osei Wusu kannte die Familie der getöteten Kinder flüchtig. "Wir alle leben hier, wir sehen einander jeden Tag, aber ich weiß nicht, was wirklich passiert ist," sagt sie, nachdem sie ein graues Stofftier vor dem Haus niedergelegt hat. "Ich bin sehr traurig. Ich bin Mutter. Ich hatte gestern große Angst. Meine Kinder haben geweint, sie hatten auch Angst." In der Siedlung sei man füreinander da, erzählt ein anderer Nachbar: "Wenn jemand kommt und Probleme hat, sind wir eins hier. Deshalb geht das einfach nicht in meinen Kopf.“
Zustand emotionaler Überforderung
Im Verdacht, die Kinder umgebracht zu haben - es handelt sich um drei Mädchen im Alter von 18 Monaten, zwei und drei Jahren und um zwei Jungen im Alter von sechs und acht Jahren - steht die 27-jährige Mutter. Gegen sie wurde ein Haftbefehl erlassen, wie Staatsanwaltschaft und Polizei am späten Nachmittag bei einer Pressekonferenz bekanntgaben, die aufgrund der Corona-Auflagen im Theater und Konzerthaus der Stadt stattfand.
Die Obduktion der Leichen, die in Kinderbetten gefunden worden seien, hätten Hinweise auf ein Ersticken und Sedieren ergeben. Es habe keine direkten Anzeichen von Gewalteinwirkung gegeben. Die Tat sei offenbar in einem "Zustand emotionaler Überforderung" begangen worden. Hintergrund sei mutmaßlich die zerrüttete Ehe der Mutter mit ihrem Mann, dem Vater von vier der fünf getöteten Kinder. Die Mutter, die sich am Donnerstag in Düsseldorf vor einen Zug geworfen und schwerverletzt überlebt hat, lebe seit einem Jahr von ihm getrennt. Der älteste Sohn, der noch lebt, befindet sich "im sicheren Familienumfeld".
Dem städtischen Jugendamt war die Familie schon vor der Tat bekannt. Nach Angaben der Stadt wurden ihr "von der Stadt Solingen erforderliche Unterstützungen" gewährt. Das Jugendamt hab zusätzlich "mögliche Hilfsangebote unterbreitet". Zu keinem Zeitpunkt habe es Erkenntnisse zu "Auffälligkeiten oder einer potenziellen Gefährdung der Kinder“ gegeben.
Besonders innige Beziehung zu den Kindern
Taten wie diese seien zum Glück sehr selten, sagt Ulrike Zähringer. Die Juristin lehrt Kriminologie und Strafrecht an der Akademie der Polizei in Hamburg und hat jahrelang zu Tötungsdelikten an Kindern geforscht. Pro Jahr würden in Deutschland 60 bis 70 Kinder unter 14 Jahren Opfer von vorsätzlichen Tötungen. Wer denkt, dass die Täterinnen oder Täter ihre Kinder hassen oder zumindest ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Nachwuchs haben, irre sich, sagt die Expertin.
Genau das Gegenteil sei der Fall, so Zähringer im Gespräch mit der DW: "Oft sind es Eltern, die besonders liebevoll mit ihren Kindern umgehen und besonders enge Beziehungen haben. Und weil sie diese besonders enge Beziehung haben, können sie sich nicht vorstellen, dass die Kinder dann in getrennten Familien glücklich sind, wenn dieses Idealbild der Familie zum Beispiel durch eine Trennung zerbrochen ist." Die einzig mögliche Handlung und Lösung aus Sicht der Täterinnen oder Täter sei dann die Tötung des Kindes.
"Oft ist die Überlegung, dass man sich so eine Tat vorstellen könnte, schon eine ganze Weile da. In einem Drittel der Fälle werden sie auch angekündigt", sagt Zähringer. Die konkrete Tat erfolge dann aber oft durch einen "akuten Impulsdurchbruch".
Das bedeutet, dass die Menschen ihre Handlungen nicht mehr kontrollieren und nur schwer verhindern können. Wie können Familie, das nähere Umfeld und Hilfseinrichtungen überhaupt im Vorfeld einschreiten und solche Taten verhindern? Bei Ankündigungen einer Tat sollte zumindest in Erwägung gezogen werden, dass dies nicht nur eine Gefährdung der erwachsenen Person sein könne, sondern auch eine Fremdgefährdung möglich sei, wenn Kinder im Spiel seien, erläutert Zähringer.
Coronakrise als Risikofaktor
Während bei den älteren Kindern von sechs bis 13 Jahren laut Studien häufiger die Mütter die Täterinnen sind, sind es bei den Kindern bis fünf Jahren meist die Väter. "Nach einer Trennung denkt mancher Vater, wenn ich die Kinder schon nicht bekomme, dann meine Ex-Frau auch nicht", sagt Stefan Röpke, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, "die ökonomische Situation kann eine Rolle spielen, Konflikte in der Partnerschaft oder auch ein einschneidendes Lebensereignis." Die Täterin oder der Täter sehe dann keinen Ausweg mehr.
Röpke, spezialisiert auf den Bereich Persönlichkeitsstörungen, sieht auch die Coronakrise als Risikofaktor dafür, dass psychische Krankheiten erstmalig oder erneut aufbrechen. "Besonders alleinerziehende Eltern von Kleinkindern haben in Corona-Zeiten eine deutliche Mehrbelastung, auch das Homeschooling erzeugt Stress", erklärt der Arzt. Wenn jemand dann in eine schwere Depression hereinrutsche, die mit Wahnideen einhergehen könnte, könne so eine Tat passieren.
Nachbarschaft will der Kinder mit Lichterkette gedenken
Im Fall der Tat in Solingen haben die Ermittler derzeit keine Erkenntnisse zu psychischen Vorerkrankungen bei der Mutter. Hinweise, dass die Corona-Pandemie eine Rolle gespielt haben könnte, sehen sie aktuell auch nicht.
An "Wir in der Hasseldelle" sei die Familie nicht herangetreten, sagt der Vorsitzende Hans-Peter Harbecke. Der Verein hat die Menschen in der Nachbarschaft dazu aufgerufen, am Samstagabend mit Kerzen vor die Tür zu treten und eine Lichterkette zu bilden. "Wir stehen unter Schock. Ein Stadtteil, den wir sonst als so bunt und lebendig erleben, wird von diesem Ereignis, von einem auf den anderen Moment, tief ins Herz getroffen und erschüttert", schreibt er auf seiner Internetseite.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website befrienders.org. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.