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Klimaflüchtlinge in den Sundarbans suchen eine neue Heimat

Dipanjan Sinha
21. März 2022

Auf die Insel Sagar retteten sich einst die Bewohner kleiner Inseln, die wegen des ansteigenden Meeresspiegels überflutet wurden. Aufgrund des Klimawandels steigt das Wasser weiter. Auch ihre neue Heimat ist nun bedroht.

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Ein Luftbild der Sundarbans
Die Menschen im Sundarbans-Delta haben schon immer mit den Launen des Wassers gelebt. Aber in letzter Zeit machen heftige Stürme und der steigende Meeresspiegel das Leben dort immer schwierigerBild: NASA/ZUMA Wire/picture alliance

Wenn der Vollmond kommt, muss Gangadhar Bor weg. Dann zieht er aus seinem kleinen Ein-Zimmer-Ziegelhaus mit einem Blechdach um, in eine provisorische Hütte auf Stelzen. Denn mit dem Vollmond kommt das Wasser. Seit mehr als einem Jahr bestimmen so die Gezeiten sein Leben.

Bei Hochwasser tritt der Fluss Muri Ganga über die Dämme. Eigentlich sollen sie Bors Heimatdorf Bankimnagar an der Küste der Insel Sagar schützen. Aber das Wasser strömt einfach über die Dämme hinweg, bis zu hundert Meter hinein ins Dorf. Die Bewohner müssen dann warten, bis es wieder zurückgeht. Erst dann können sie wieder in ihre Häuser.

"So funktioniert jetzt unser Leben hier", sagt Bor.

Die Insel Sagar liegt ganz im Westen der Sundarbans, wo die Flüsse Ganges, Brahmaputra und Meghna zusammenfließen und kleinere Nebenflüsse den größten Mangrovenwald der Welt speisen. Mit einer Gesamtfläche von 40.000 Quadratkilometern erstreckt sich das Delta über Bangladesch im Osten und den indischen Bundesstaat Westbengalen im Westen.

Ein Mann steht auf einer Leiter zu einer provisorischen Hütte
Bei jedem Vollmond muss Bor, 65, von seinem Haus in eine behelfsmäßige Hütte auf Stelzen umziehen, da sein Haus überflutet wird Bild: AVIJIT GHOSH

Sagar ist die größte der indischen Inseln des Deltas. Hier leben mehr als 200.000 Menschen. Doch es werden immer mehr.  Die ansteigenden Fluten und zahlreiche Stürme haben kleinere Nachbarinseln längst unbewohnbar gemacht. Die Menschen von dort mussten weg, viele kamen so nach Sagar. Sie sind Klimaflüchtlinge, genauso wie der 65-jährige Bor.

Aber auch Sagar ist inzwischen vom Wasser bedroht. In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist der Meeresspiegel im Delta im Durchschnitt um drei Zentimeter pro Jahr gestiegen. Das ist viel schneller als anderswo auf der Welt. Sagar hat dadurch bereits rund 50 Quadratkilometer Land an das Meer verloren. Das ist etwa ein Sechstel seiner ursprünglichen Fläche.

Kein sicherer Ort

Bor war gegen Ende der 1980-er Jahre von seiner Heimatinsel Lohachara nach Sagar geflohen. Das Wasser ließ ihm keine andere Wahl. Sein Heimatdorf versank zusehends in den Fluten. Dennoch ist ihm die Entscheidung zu gehen, nicht leicht gefallen.

"Eigentlich wollten wir bleiben. Denn wir konnten vom Fischfang gut leben", erinnert er sich. "Aber jedes zweite Jahr mussten wir umziehen, weg vom Wasser. Und jedes Mal mussten wir ein neues Haus bauen, weil die Insel immer weiter geschrumpft ist. Schließlich haben wir nach den vielen Stürmen und Überschwemmungen aufgegeben und sind fortgegangen."

1996 versank Lohachara vollständig im Meer.

Nun steht Bor mit den anderen Gemeindemitgliedern, die einst mit ihm nach Sagar geflohen waren, hier im Süden der Insel vor dem gleichen Problem.

Eine DW-Karte der Sundarbans

Als er damals in Sagar ankam, trat der Fluss nur gelegentlich über die Ufer, erinnert sich Bor. Aber seit einiger Zeit kommen diese Überschwemmungen nun bei jedem Hochwasser, jeden Monat.

Die überfluteten Häuser kann man danach wieder sauber machen. Aber das Ackerland, von dessen Früchten die Gemeinde lebt, lässt sich nicht so einfach wieder herrichten.

Auch Bors Land wird jetzt regelmäßig mit Salzwasser geflutet. Noch vor zwei Jahren baute er auf einer zwei Hektar großen Fläche hinter seinem Backsteinhaus Betel an, ein in Südasien beliebtes Pfeffergewächs.

Aber zwischenzeitlich haben zwei große Wirbelstürme die Sundarbans heimgesucht und so die Menschhen noch tiefer in die Krise gestürzt.

Herausforderungen des Küstenschutzes

Im Jahr 2020 zerstörte der Zyklon Amphan etwa ein Viertel des indischen Mangrovenwaldes im Delta. Mangroven sind ein natürliches Bollwerk gegen die Küstenerosion.

Amphan und der Zyklon Yaas, der die Sundarbans im Jahr darauf heimsucht, beschädigten auch die Ziegel- und Erddämme, die viele Teile der Insel seit mehr als drei Jahrzehnten geschützt hatten.

Mangrovenbäume vor einem Sonnenuntergang
Die Sundarbans sind der größte Mangrovenwald der Welt und beherbergen eine einzigartige Tierwelt, darunter auch TigerBild: AFP via Getty Images

Sunil Jana ist Mitglied im Panchayat, der gewählten Dorfverwaltung. Er erzählt von den laufenden Reparaturarbeiten einer zerstörten Böschung in Bankimnagar. Die Arbeiten gehen nur langsam voran.

"Um die Situation hier wirklich zu verbessern, muss zuerst das Vordringen des Salzwassers gestoppt werden. Und dafür brauchen wir einen starken Damm", sagt Jana.

Die Regierung des Bundesstaates Westbengalen hat nun einen umfassenden Plan für einen neuen "Kreislauf"-Damm genehmigt, der aus zwei Schichten von Deichen und Mangroven für besonders gefährdete Stellen der Inseln besteht.

Es gibt jedoch keinen offiziellen Zeitplan für das Projekt. Die Projektplaner rechnen damit, dass der Bau zehn Jahre dauern könnte.

Diese Zeit haben die Bewohner, die in unmittelbarer Nähe des Wassers wohnen, nicht. Sollte ein weiterer Wirbelsturm auf die Insel treffen, bevor der neue Damm fertig ist, könnten rund eintausend Menschen ihre Häuser verlieren, sagt Sugata Hazra, Ozeonographie-Professor an der Jadavpur University in Kalkutta.

Klimaflüchtlinge ziehen weiter

Das Leben in den indischen Sundarbans ist beschwerlich. Etwa 43 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten leben von der Landwirtschaft, der Fischerei oder dem Sammeln von Honig.

Unzählige junge Männer und Frauen haben Sagar deswegen bereits verlassen. Viele gingen nach Kalkutta. Das ist die nächstgelegene Großstadt. Andere sind noch weiter gezogen bis in die mehr als 1.000 Kilometer entfernten Bundesstaaten Kerala und Andhra Pradesh. Dort leben sie in prekären Verhältnissen, schlagen sich als Tagelöhner oder als billige Arbeitskräfte in Fabriken und auf Baustellen durch.

 Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch. Die Wand hinter ihm ist rosa.
Sunil Jana, Mitglied der Dorfverwaltung, sagt, es müsse mehr getan werden, um die Dämme, die das Dorf vor den Wasserfluten schützen, zu reparierenBild: AVIJIT GHOSH

Viele derer, die noch auf Sagar sind, wollen dennoch weg. Aber im Gegensatz zu den Umsiedlungsprogrammen, die sie in den 1980-er und 1990-er Jahren nach Sagar gebracht hatten, gibt es bislang keinerlei staatliche Unterstützung für einen erneuten Umzug.

Mohan Kumar Bera ist Sozialwissenschaftler am privaten Birla Institute of Technology and Science in Pilani, östlich von Neu-Delhi. Er meint, die indische Regierung müsse ein Konzept entwickeln, wie sie den Menschen in gefährdeten Gebieten bei der Umsiedlung helfen können. Für ihn gehören in einen solchen Plan auch Maßnahmen und Schulungen der betroffenen Bewohner, um ihnen alternative Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeiten zu eröffnen. Nur so könnten die Menschen ihr Leben auf der Insel anpassen, wenn traditionelle Landwirtschaft dort nicht mehr möglich ist.

"Eine unkontrollierte Migration während einer Krise macht die Menschen um ein Vielfaches verletzlicher, als wenn sie in einer Gruppe und mit sozialer Unterstützung umsiedeln", sagt der Wissenschaftler. "Wir brauchen vorausschauende Maßnahmen zur Umsiedlung von Gemeinschaften oder zur Entwicklung alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten, damit die Menschen weniger abhängig sind vom Land. " Bor sagt, er würde auch ein weiteres Mal fortgehen. Hoffnung auf finanzielle Unterstützung für den Aufbau eines neuen Lebens an einem anderen Ort, hat er jedoch nicht.

"Ich sehe wirklich niemanden, der uns hilft. Uns vergisst man hier einfach", beklagt er.

Leben im Ungewissen

Für andere ist der Gedanke, wieder umzusiedeln und ein erneutes Mal bei null anzufangen, unerträglich. Uttam Dolui geht es so. Der 55-jährige kam vor 20 Jahren von überfluteten Insel Ghoramara nach Sagar.

Ein Mann steht in einer kargen Landschaft und zeigt in die Ferne
Yaas Bishnupada Bhunia, 70 Jahre alt, zeigt auf einen Damm. Er sagt, er habe das Wasser im Laufe seines Lebens immer näher kommen sehenBild: AVIJIT GHOSH

Nach der Umsiedlung hatten sie nur wenig zu essen, erzählt Dolui. Sie fanden lange keine Arbeit, weil die Einheimischen den Flüchtlingen gegenüber misstrauisch waren.

"Sie haben uns nicht einmal erlaubt, ihre Häuser zu besuchen", erzählt er. "Inzwischen hat sich das geändert, aber durchmachen möchte ich so etwas nie wieder." Unterdessen treffen immer mehr Vertriebene aus anderen Teilen des Deltas in Sagar ein. Vor dem Zyklon Yaas hatte die Regierung vorübergehend einige Tausend Menschen von benachbarten Inseln hierher evakuiert.

Viele sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Einige sind jedoch auf der Suche nach Arbeit in die Städte auf das Festland gezogen. Andere bleiben auf Sagar im Ungewissen. Was die Zukunft ihnen bringt, wissen sie nicht.

Adaptiert aus dem Englischen von Tabea Mergenthaler