Kohle statt Gas - Deutschland steuert um
3. August 2022"Die Turbine ist da, sie kann geliefert werden, es muss nur jemand sagen, ich möchte sie haben, dann ist sie ganz schnell da." Demonstrativ hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz im westdeutschen Mülheim an der Ruhr mit einer Gas-Turbine der Firma Siemens Energy ablichten lassen (siehe Artikelbild), die eigentlich längst wieder in Russland sein sollte. Dort wird sie für den Betrieb der Gas-Pipeline Nord Stream 1 gebraucht.
Rund 1800 Gigawattstunden (GWh) - das ist die Gasmenge, die Russland pro Tag durch die Pipeline pumpen kann. Es kommen derzeit aber nur rund 350 GWh täglich in Deutschland an. Der russische Präsident Wladimir Putin macht fehlende Gas-Turbinen dafür verantwortlich, für die Bundesregierung ist die Drosselung politisch motiviert.
Russland könnte uneingeschränkt liefern
Dem Weitertransport der Gas-Turbine nach Russland stehe nichts entgegen, so der Kanzler. "Außer dass die russischen Abnehmer mitteilen müssen, dass sie die Turbine auch haben wollen und dass sie die nötigen Auskünfte für den Zolltransport nach Russland geben." Gazprom könne seine Lieferverpflichtungen gegenüber Europa jederzeit uneingeschränkt erfüllen, betont Scholz.
Eine politische Aussage. Faktisch geht die Bundesregierung inzwischen nicht mehr davon aus, dass Russland den Gashahn wieder vollständig aufdrehen wird. Mit Hochdruck wird nach Alternativen gesucht. Auch eingemottete oder zur Abschaltung vorgesehene deutsche Steinkohle-Kraftwerke können ab sofort wieder für bis zu neun Monate angefahren werden, um dafür Gas-Kraftwerke vom Netz zu nehmen, die derzeit rund zehn Prozent des Stroms in Deutschland produzieren.
Weltweiter Run auf Kohle
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "zeitlich eng befristeten Notmaßnahme, die nicht zu Lasten unserer Klimaziele" gehen dürfe. Eigentlich will Deutschland bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen. "Was uns nicht passieren darf, das ist, jetzt in eine globale Renaissance der fossilen Energie und insbesondere der Kohle hineinzuschlittern", warnt der Kanzler.
Beim Blick auf die Daten sieht es global allerdings genau danach aus. Noch nie wurde weltweit mehr Kohle verstromt als im vergangenen Jahr. 2022 könnte nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) weltweit so viel Kohle produziert und nachgefragt werden, wie nie zuvor - und das gilt auch für die kommenden Jahre.
Importverbot für russische Kohle
Der in Berlin ansässige Verein der Kohlenimporteure (VDKi) geht davon aus, dass die Nachfrage nach Steinkohle in Deutschland ab September deutlich anziehen wird. "In gesamten Jahr 2022 werden wir wohl rund 35 Millionen Tonnen Steinkohle für die Kraftwerke importieren", sagt VDKi-Vorstandsvorsitzender Alexander Bethe. Das wären elf Prozent mehr als 2021.
50 Prozent der Kraftwerkskohle wurden bislang aus Russland importiert. Damit ist demnächst Schluss. Am 9. April sanktionierte die EU Russland mit einem Kauf- und Importverbot für Kohle und Erdöl. Vorher abgeschlossene Verträge dürfen noch ausgeführt werden. Beim Öl bis Ende Dezember, Kohle darf nur noch bis zum 10. August geliefert und entladen werden.
Ausreichend neue Lieferanten
Ersatz zu finden, sei kein Problem, sagen die deutschen Kohleimporteure. Es gebe ausreichend Lieferanten in Südafrika, Australien, USA, Kolumbien und Indonesien, sagt Alexander Bethe. Da die Kohle je nach Herkunftsland unterschiedliche Eigenschaften und Qualitäten habe, müsse man allerdings sehen, welcher Mix für die Kraftwerke am besten sei. "Die Tests laufen bereits."
"Quietschen", so Bethe, könnte es aber beim Transport der Kohle. Die Seehäfen in Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen seien durch den hohen Zulauf von russischer Kohle bis zum 10. August plus Alternativen voll ausgelastet und liefen am Limit. Auch bei der Binnenlogistik, dem Transport der Kohle von den Seehäfen zu den Kohlekraftwerken per Schiff oder Bahn, komme es wegen des Personalmangels zu Engpässen.
Niedrigwasser behindert den Transport
Zudem habe die Binnenschifffahrt bereits Kapazitäten abgebaut, da immer weniger Kohle importiert wurde und Deutschland aus Klimaschutzgründen spätestens bis 2038 ganz aus der Kohle aussteigen will. Etwa zwei Drittel aller Kohleimporte nach Deutschland werden mit Binnenschiffen über den Rhein zu den Kraftwerken transportiert.
Im Moment ist der Wasserpegel so niedrig, dass Schiffe nur mit 30 bis 40 Prozent ihrer Ladekapazität fahren können. "Dann braucht man drei bis viermal so viel Transportkapazitäten", rechnet Bethe vor, der hofft, dass der Rhein schon bald wieder mehr Wasser führt.
Höchstpreise für Steinkohle
Steinkohle zu kaufen, wird zudem immer teurer. Anfang 2021 war eine Tonne auf dem Weltmarkt noch für 64 US-Dollar zu haben. Aktuell steuert der Kurs auf 400 US-Dollar zu. Weltweit wurden im vergangenen Jahr rund 7,4 Milliarden Tonnen Steinkohle gefördert, fast die Hälfte davon in China. Den Löwenanteil verbrauchen die fördernden Länder selbst, nur eine Milliarde Tonnen wird auf dem Weltmarkt gehandelt.
Für die Betreiber stillgelegter Kraftwerke lohnt sich das Wiederhochfahren trotz der hohen Kohlepreise, da die Strompreise ebenfalls in die Höhe geschnellt sind. Als erstes Unternehmen hat das Ende 2021 stillgelegte Kraftwerke Mehrum in Niedersachsen, das dem tschechischen Energiekonzern EPH gehört, seinen Betrieb bereits wieder aufgenommen. Andere Betreiber wollen folgen.
Viele Anlagen sind veraltet
Der Karlsruher Energiekonzern EnBW hingegen will lediglich ein Kraftwerk länger laufen lassen als geplant. Fünf abgeschaltete Kraftwerke könnten nicht reaktiviert werden, weil sie aus Altersgründen nicht mehr ununterbrochen laufen könnten.
Doch nicht nur Steinkohlekraftwerke sollen zurück ans Netz. Die Bundesregierung bereitet für Anfang Oktober auch eine Verordnung für das Wiederanfahren von bereits stillgelegten Braunkohlekraftwerken vor. Das betrifft auch das Kraftwerk Jänschwalde in Brandenburg, das mit zwei Blöcken so viel Strom liefern kann wie ein Atomkraftwerk. Das Problem: Die alten Blöcke halten die Abgasvorschriften nicht ein, der Betreiber hielt es angesichts der Abschaltung nicht für nötig, sie nachzurüsten. Überdies fehlt Personal. Die Arbeitskräfte sind längst andernorts im Einsatz.
Der Artikel wurde korrigiert um die Menge der Steinkohleimporte. In einer früheren Version war von 30 Millionen Tonnen im kommenden Winter die Rede. Richtig ist: 35 Millionen Tonnen im gesamten Jahr 2022.