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Kokain: Die Drogenpipeline nach Europa

6. März 2021

Pandemiezeit, keine Partys, weniger Drogen? Von wegen. Das Aufputschmittel Kokain landet trotz Lockdown tonnenweise in Deutschland - wenn nichts dazwischenkommt.

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Symbolfoto Kokain-Konsum
Bild: Geisler-Fotopress/picture-alliance

Alexander ist Mitte Vierzig, arbeitet in der Medienbranche, lebt in Berlin-Mitte. Und er ist Kokain-Konsument. Früher: etwa zwei Mal die Woche. Seit dem Corona-Lockdown schnupft er öfter, erzählt Alexander der DW am Telefon. "Viermal die Woche bestimmt."

Denn fast jeden Abend habe er nun Besuch von mehreren Freunden, was laut Berliner Corona-Verordnung derzeit eigentlich verboten ist. "Die Leute langweiligen sich halt tierisch", sagt er. "Und was nehmen die Leute, wenn sie sich langweilen? Amüsiermittel."

Die Party im Wohnzimmer

Vor der Corona-Pandemie trafen sich Alexander und seine Freunde in Bars. Und nahmen dort heimlich Kokain, zumindest ab und zu. "Wenn Du 'ne Truppe von acht Leuten bist, dann rennen die ja nicht alle gleichzeitig auf das Klo", sagt er. "Wenn Du aber zu Hause bist, dann machst Du das Ding auf den Tisch, legst acht Lines und alle bekommen gleichzeitig etwas. Da geht es dann schneller und alle nehmen mehr."

Infografik Kokain in Deutschland DE

Noch gibt es keine offiziellen Zahlen dazu, wie sich der Konsum von Drogen in der Corona-Pandemie verändert hat. Beschränkte Kontakte, geschlossene Grenzen und verwaiste Flughäfen dürften kriminellen Banden ebenso viel Kopfzerbrechen bereitet haben wie gesetzestreuen Unternehmern. Viele Experten hatten deshalb zunächst damit gerechnet, dass der Handel einbricht und damit der Konsum illegaler Drogen zurückgeht.

Der Rekordfund im Hafen

Zu wenig Stoff auf dem Markt? Nein, das sei kein Problem, sagt Alexander aus Berlin. Ein Anruf genüge, dann stehe das "Kokain-Taxi" in 20 bis 30 Minuten vor seiner Tür. "Länger als eine dreiviertel Stunde wartest Du nicht." Wie bei Lieferando oder dem Pizza-Service. Auch die Preise seien stabil geblieben, sagt er, bei zunehmender Reinheit des Stoffs.

Das kann René Matschke bestätigen. Sein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die "Kokain-Taxis", die Alexander in Berlin ruft, Nachschub-Probleme kriegen. Matschke ist Leiter des Zollfahndungsamts Hamburg. Sein Revier: der Hafen. "Die Haupteinlasstore für Kokain sind immer die großen Häfen", sagt Matschke der DW am Telefon.

Rene Matschke - Leiter des Zollfahndungsamtes Hamburg
Schmugglern auf der Spur: René Matschke, Leiter des Zollfahndungsamtes HamburgBild: Frank Molter/dpa/picture alliance

Am Hamburger Hafen kommen täglich mehr als 23.000 Container an. Matschkes Mitarbeiter picken besonders verdächtige heraus: Container, die aus Südamerika kommen, eine bestimmte Route hinter sich haben, von suspekten Firmen gehandelt wurden. In ihrer Turnhallen-großen Röntgenanlage durchleuchten die Hamburger Zöllner die Container.

Und finden immer mehr Kokain, mal verpackt in Sporttaschen, mal verborgen zwischen Reissäcken oder Tierfutter. "Die Mengen, die wir heute sicherstellen, gab es noch nie", sagt Matschke. "Wir waren jetzt die letzten zwei Jahre bei zehn Tonnen. Die Jahre davor waren wir mal bei drei oder fünf Tonnen Sicherstellung im Jahr in ganz Deutschland."

Drogen in Blechdosen am Hamburger Hafen
Drogen aus der Blechdose: hier wurden die Hamburger Zöllner im Februar fündigBild: Zollfahndungsamt Hamburg/dpa/picture alliance

Vergangene Woche konnte Matschke seinen bislang größten Fang präsentieren: 16.000 Kilogramm Kokain, verborgen in Blechbüchsen, in denen Spachtelmasse hätte sein sollen. So viel Kokain wurde noch nie auf einen Schlag in Europa sichergestellt.

Die Entscheidung für Europa

Europa sei derzeit eben der attraktivste Markt für die kriminellen Banden, sagt Jeremy McDermott der DW am Telefon. Der Direktor der Organisation InSight Crime spricht von einer regelrechten "Kokain-Pipeline nach Europa".

Infografik Schmuggelroute Kokain Europa

"Die Preise in Europa sind einfach sehr viel höher und die Risiken sehr viel geringer als in Süd- und Nordamerika", so McDermott, der mit seinem Team in Medellín in Kolumbien das Organisierte Verbrechen in Südamerika analysiert. "Die USA geben jedes Jahr Milliarden an US-Dollar für ihren Krieg gegen die Drogen aus. Sie haben eine ganze Armee im Einsatz zur Drogenbekämpfung."

Sich nach Europa zu orientieren sei für die Banden deshalb "einfach eine vernünftige Geschäftsentscheidung." McDermott glaubt, dass der europäische Kokain-Markt weiter wachsen wird, "besonders in Osteuropa".

Die brasilianische Route

Die Produktion in Ländern wie Kolumbien, Bolivien oder Peru sei nach wie vor hoch. Von dort hätten sich mehrere Routen nach Europa etabliert, so McDermott. "Die derzeit beliebteste führt aus Kolumbien in brasilianische Häfen." Bis dahin sei das Kokain schon durch vier bis fünf Hände gegangen.

"Dort brauche ich eine weitere Bande, die dafür sorgt, dass alles im richtigen Container nach Europa landet. Dazu müssen vermutlich Hafenmitarbeiter und Zollbeamte bestochen werden." Anders als früher seien heute kriminelle Gruppen aus unterschiedlichsten Ländern am Geschäft beteiligt.

Zoll Rauschgiftschmuggel | Verpacktes Kokain
Durch die Pandemie kaum noch möglich: der Transport per Flugzeug mit "Mulis", die päckchenweise Kokain schluckenBild: Hauptzollamt Kiel

In Europa würden die Container von einer weiteren Crew in Empfang genommen und in ein Zwischenlager gebracht. Dabei seien oft niederländische Banden im Einsatz – die Häfen in Rotterdam und Antwerpen seien Hauptumschlagplätze.

In einem Zwischenlager würde die Ware aufgeteilt. "Eine Ladung hat oft viele Eigentümer und viele verschiedene Käufer", sagt McDermott. "Die holen die Ware ab und transportieren sie weiter durch ganz Europa."

Das Geldbündel für den Hafenarbeiter

So finden die Drogen ihren Weg zu den kleineren Dealern und Kunden wie Alexander in Berlin. Insgesamt zwölf Millionen Europäer haben schon einmal Kokain genommen, schätzt die EMCDDA, die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon.

Der Handel mit Kokain

Auch Laurent Laniel von der EMCDDA spricht davon, dass Kokain in Europa seit einigen Jahren auf dem Vormarsch sei. Das habe Folgen, sagt Laniel der DW am Telefon. "Wir sollten uns auf mehr Korruption in Europa gefasst machen und auf mehr Gewalt."

Zumindest in den Häfen und Flughäfen müsse man angesichts der entdeckten Mengen schon jetzt davon ausgehen, dass Drogenbanden Mitarbeiter bestechen. "Und es gibt immer mehr Anzeichen für Korruptionsvorfälle bei Ermittlungsbehörden und im Justizsystem. Wir sind natürlich noch nicht auf einem Niveau wie etwa in Südamerika. Aber es könnte sein, dass auch schon einzelne in der Verwaltung und Politik in Europa vom Kokainhandel profitieren."

Die Folterkammer im Container

Je mehr Kokain nach Europa komme, um so mehr Geld stehe auf dem Spiel, sagt Laniel. Und umso größer sei die Bereitschaft von Banden, Gewalt einzusetzen. Er nennt den Fund von zu Folterkammern umgebauten Schiffscontainern in den Niederlanden als Beispiel dafür, wie brutal das Organisierte Verbrechen mittlerweile in Europa agiere.

Auch in Hamburg habe es schon Schießereien im Umfeld der Drogeneinführer gegeben, sagt René Matschke vom Hamburger Zoll. "Und ja, wir finden bei Durchsuchungen immer mehr scharfe Schusswaffen." Schon jetzt würden Zoll- und Polizeibeamte bedroht.

Das tote Schwein in der Theke

Wie sollte der Staat darauf reagieren? Mit einem Drogenkrieg, wie ihn die USA führen? Nein, sagt Jeremy McDermott von InSight Crime in Medellín. "Man braucht einen ganzheitlichen Ansatz, nicht nur Repression, Verbote und Verhaftungen."

Dafür müsse Deutschland mit seinen europäischen Partnern zusammenarbeiten, mit den USA und befreundeten Staaten in Lateinamerika. "Man muss die Zivilgesellschaft stärken, den Koka-Bauern legale Alternativen bieten. Wenn man versucht, den Drogenhandel einzudämmen, indem man nur Container in Hamburg durchleuchtet, dann wird man keine große Wirkung erzielen."

Kolumbiens Kokabauern brauchen Alternativen
Koka-Bauer in Putumayo, eines der größten Anbaugebiete in Kolumbien Bild: DW/M. Galanova

Kokain-Konsument Alexander in Berlin sieht sich als letztes Glied einer langen Kette. Wenn er aufhören würde, Kokain zu nehmen, dann würde das nicht viel ändern, sagt er. "Wenn der Stoff erstmal hier ist, dann ist das wie mit einem geschlachteten Schwein. Wenn es in der Theke liegt und ich es nicht esse, ist es trotzdem tot."

Und seine eigene Gesundheit? Regelmäßiger Kokainkonsum kann Blutgefäße und innere Organe schädigen, psychisch abhängig machen und psychische Krankheiten auslösen, warnen Ärzte. "Dadurch, dass es gestreckt wird, ist es natürlich manchmal fraglich, was Du Dir da reinziehst", sagt Alexander. Eines habe er sich jedenfalls vorgenommen, sagt er: wenn der Corona-Lockdown endet, dann will er seinen Konsum wieder herunterfahren.