Komet Tschuri droht zu zerbrechen
22. Januar 2015"Wissen Sie, wir wissen so vieles nicht. Eigentlich soll unsere Mission ja Antworten geben, aber jedes Mal, wenn ich mir die Fotos ansehe, stelle ich mir neue Fragen." Holger Sierks vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung sitzt vor einem riesigen Bildschirm in einem kahlen Konferenzraum und betrachtet die neuesten Fotos des Kometen. Er ist der wissenschaftliche Leiter des OSIRIS-Projektes, der Kamera auf Raumsonde Rosetta. "Warum hat der Komet so eine ungewöhnliche Form? Ist er aus zwei Objekten entstanden? Oder hat er am Hals auf seinem Weg um die Sonne so viel Masse verloren?" Rätsel geben ihm auch die großen herumliegenden Steine auf. Jeder misst vier mal vier Meter, so groß wie eine Garage. Er hätte gerne genauere Bilder.
Auch wenn die Kamera auf Raumsonde Rosetta schon aussagekräftige Fotos von der Oberfläche des Kometen zur 500 Millionen Kilometer entfernten Erde geschickt hat. Zumindest genug, um in der aktuellen Ausgabe des Science-Magazins auch einige Antworten zu liefern.
Zum Beispiel die auf die Frage, wie die 50 bis 300 Meter großen Trichter entstanden sind. Sie sind durch Staub- und Gasaustritte gebildet worden und können bis zu 200 Meter tief sein. Durch sie und andere Risse verliert Tschurjumow-Gerassimenko jeden Tag 700 Tonnen Material in den Weltraum. Darunter sind Gase, vor allem Wasserdampf, CO2 und CO sowie Staubkörner. Einige davon sogar mehrere Zentimeter groß. Das Innere des Kometen muss also von kleinen Spalten durchzogen sein, durch die das Material entweichen kann. Daraus erklärt sich auch die geringe durchschnittliche Dichte: Weniger als halb so viel wie Wasser.
Der Komet verliert jeden Tag 700 Tonnen Masse
Außerdem haben Sierks und seine Kollegen einen gewaltigen Riss entdeckt, der sich quer über die Verbindung der beiden Kugeln zieht. "Der Riss liegt in der Nähe der Rotationsachse, das heißt, die beiden verbundenen Keulen scheinen Stress miteinander zu haben. Der Riss ist sehr tief, wenn man da am Rand stehen würde, könnte man tief fallen. Irgendwann wird dieser Komet auseinanderbrechen."
Genau aus dieser Kometenregion entweichen auch große Mengen Material. Auf den Fotos der Sonde zeigen sich hier die größten Staubfontänen. Gerade dieser Hals und die Doppelstruktur stellen die Wissenschaftler vor viele Rätsel. Er könnte aus zwei Objekten, die irgendwann einmal kollidiert sind entstanden sein. Andere glauben, er war früher kompakter, hat aber besonders in der Mitte viel Materie verloren. Für Theorie Nummer zwei würden die vielen Staubfontänen sprechen. Auch Sierks findet: "Bisher gibt es keine Anzeichen, dass die beiden Körper verschieden sind."
Lander Philae wird noch vermisst
Neben diesen neuen Erkenntnissen bleibt dem Kometenforscher eine noch nicht erledigte Aufgabe: Die Suche nach Lander Philae. Immer noch weiß niemand, wo der abgeschaltete Landeroboter genau steht. "Die Suche nach ihm wird mit der erhöhten Aktivität des Kometen nicht einfacher." Holger Sierks hatte gehofft, Philae kurz vor Weihnachten 2014 auf neuen Bildern zu finden. Die Aussichten standen gut: Niedrige Umlaufbahn, Überflug der Landeregion bei vollem Tageslicht, doch die Auflösung ist immer noch zu gering.
Für bessere Bilder müsste Rosetta näher an den Kometen heranfliegen. 20 Kilometer Entfernung war der geringste Abstand – näher ist zu gefährlich. Tschurjumow-Gerassimenko wird immer aktiver, und die Gefahr für Rosetta, durch eine Staub- oder Gasfontäne aus der Bahn geworfen oder sogar beschädigt zu werden, immer größer. Zudem kann das OSIRIS-Team nicht allein über die Umlaufbahn entscheiden. Auch andere Forscher möchten ihre Projekte weiterführen.
Besonders weit ist die ROSINA-Forschungsgruppe um Kathrin Altwegg in Bern. Die Wissenschaftler analysieren mit ihrem Massenspektrometer Moleküle die den Kometen verlassen.
Das Experiment ist ein zentraler Bestandteil der Mission und hat bereits für eine wissenschaftliche Sensation gesorgt.
Das Wasser auf der Erde stammt nicht von Kometen
Im Dezember gelang der Nachweis, dass das Wasser auf der Erde höchstwahrscheinlich nicht von Kometen stammt, wie bisher angenommen. Ausschlaggebend war der hohe Anteil von schwerem Wasser: Er ist drei Mal höher als auf der Erde.
Das Massenspektrometer hat jetzt den Schweif des Kometen analysiert. Er verliert vor allem Wasserdampf, aber auch CO2 und CO. Je kälter die Oberfläche, desto mehr CO2 tritt aus. "Die Zusammensetzung und die Menge der austretenden Gase sind variabel, je nach Sonneneinfall und beobachteter Kometenoberfläche", erklärt Urs Mall, Mitarbeiter des ROSINA-Projektes.
In der aktuellen Science-Ausgabe finden sich insgesamt sieben Publikationen zum Kometen Tschurjumow-Gerassimenko. Raumsonde Rosetta und Lander Philae haben insgesamt 20 Instrumente an Bord. Neue Erkenntnisse werden folgen, z.B. die Analyse der Schallausbreitung im Kometenboden. Die Datenmenge des Horchprojektes SESAME um Klaus Seidensticker ist so groß, dass die Auswertung noch einige Zeit dauern wird. Und es werden neue hinzukommen: Vielleicht wird Lander Philae im Mai oder Juni wieder aufwachen, dann sind neue Experimente direkt auf der Oberfläche des Kometen möglich.