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Äthiopien: das Haus bebt

Kommentarbild Ludger Schadomsky
Ludger Schadomsky
22. Juni 2015

Trotz Protesten der Opposition hat die äthiopische Wahlkommission die Regierungspartei EPRDF zum Wahlsieger erklärt. Doch das eigentliche Votum der Äthiopier findet abseits der Wahlurnen statt, meint Ludger Schadomsky.

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Schlangen vor einem Wahllokal in Äthiopien (Foto: DW)
Bild: DW/Y.-G. Egziabhare

2010, bei den letzten Parlamentswahlen, errang die regierende EPRDF-Koalition stolze 99,6 Prozent oder 545 der 547 zu vergebenden Parlamentssitze. In diesem Jahr gehen ausweislich der Wahlkommission auch noch der Sitz der Opposition sowie der parteilose 547. Sitz an die Regierungspartei.

Europäische und amerikanische Beobachter hatten die Wahl im Vorfeld boykottiert, nach 2005 und 2010 wollte man nicht noch einmal als "rubber stamp", als Abnicker einer nur bedingt freien und fairen Wahl herhalten. Die in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba beheimatete Afrikanische Union (AU) erteilte dagegen dem Urnengang schon sehr bald ihren Segen - so weit, so wenig überraschend.

Abstimmung mit den Füßen

Doch die eigentliche Wahl fand am 24.Mai 2015 ja gar nicht in Äthiopien statt – weder in der Hauptstadt Addis Abeba noch in Hawassa im Süden oder in Mekelle im Norden. Die Abstimmung der Äthiopier über die Politik ihrer Regierung, über den Spielraum zivilgesellschaftlicher Teilhabe und über Chancen auf dem Arbeitsmarkt fand auch an jenem Wahlsonntag wieder einmal mit den Füßen statt: auf dem Weg durch Sudan und die Hölle Libyens zum Mittelmeer und von dort auf kaum seetüchtigen Nussschalen Richtung Europa.

Äthiopien ist, wie seine Nachbarn Eritrea und Somalia, eines der Hauptursprungsländer afrikanischer Migration. Als Antwort auf die Massenflucht junger Universitätsabsolventen hat die äthiopische Regierung vor kurzem einen Gesetzesentwurf zur Bekämpfung des Schleuserunwesens eingebracht. Seitdem sind einige Hundert Menschenschmuggler verhaftet worden. Doch die Initiative Linie dient in erster Linie den besorgten europäischen Ländern und weniger den Menschen daheim.

In diesem Jahr zieht die Regierung in Addis eine Bilanz des ehrgeizigen, fünfjährigen "Wachstums- und Entwicklungs-Plans", der Äthiopien bis 2025 in die Riege sogenannter "middle-income" Länder wie China und Ägypten katapultieren soll. Vor allem die Infrastrukturentwicklung mit Damm- und Eisenbahnbau ist in Teilen vorbildlich.

Boomende Wirtschaft ohne Perspektive

Mit dem Wahlergebnis im Rücken hat Ministerpräsident Hailemariam Desalegn nun weitere fünf Jahre Zeit und Gestaltungsspielraum. Doch es wird nach der Regierungsbildung im Herbst nicht damit getan sein, den nächsten Fünfjahresplan aufzulegen. Denn während die Wirtschaft boomt, verliert die Regierung die Herzen und Köpfe der Menschen.

Äthiopiens Jugend fehlen Arbeitsplätze jenseits der nur mit Parteibuch zu ergatternden Beamtenjobs. Es mangelt an bezahlbarem Wohnraum und, ganz banal, an der Möglichkeit eine Familie zu gründen. Kurz: es fehlt dem Gros der 94 Millionen an Perspektive.

"Unser Haus Demokratie befindet sich noch in Bau" hat Ministerpräsident Hailemariam unlängst gesagt. Und fügte hinzu, dass sich eine Demokratie eben nicht "über Nacht" konstruieren ließe. All das ist wahr. Doch während der Dachfirst gebaut wird, bebt das Fundament des Hauses "Demokratie Äthiopien": Um im Bild zu bleiben: Millionen arbeits- und perspektivloser Jugendlicher verlieren

die Geduld mit dem Bauherren. Vor die Wahl gestellt zu bleiben oder die riskante Flucht Richtung Europa anzutreten, wenden Sie zu Tausenden ihrem Land den Rücken. Dies ist ein Misstrauensvotum, das zu ignorieren die Regierung teuer zu stehen kommen könnte.

Es ist im Interesse Äthiopiens, der gesamten Region, aber letztlich auch Deutschlands als Zielland afrikanischer Migration, das demokratische Haus Äthiopien auf ein sicheres Fundament zu stellen bevor das Dach gedeckt wird. Ein Termin für das Richtfest ist derzeit aber noch nicht abzusehen.