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Politik

Lehrstunde der europäischen Demokratie

14. Mai 2020

Ist es ein Problem, wenn das deutsche Verfassungsgericht den Europäischen Gerichtshof in die Schranken weist? Nein, denn die Grundaussage des Urteils wurde vielfach gar nicht verstanden, meint Rosalia Romaniec.

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Deutschland BVerfG-Urteil zu Anleihenkaufprogramm der EZB
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bei der Urteilsverkündung Anfang MaiBild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

In der Tat hätten sich die deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe kaum einen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um einen Streit mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom Zaun zu brechen. Jetzt, da Europa so dringend Autorität braucht und die EU-Kommission mühsam gegen Rechtsverletzungen in Polen und Ungarn kämpft, wirft das Bundesverfassungsgericht dem EuGH eine massive Überschreitung seiner Kompetenzen vor. Für die gesamte EU ist das ein heftiger Rückschlag.

Kaum war die Nachricht aus Karlsruhe bekannt, sahen sich die Populisten in Osteuropa bestätigt: In den staatsnahen Medien in Polen war sofort von einem "Durchbruch" die Rede. Und wenig später unterstellten Regierungsmitglieder in Warschau, die EU-Kommission werde mit Deutschland jetzt bestimmt nicht so hart umgehen, wie es mit Polen oder Ungarn üblich sei. So gesehen war es nur richtig, dass die (deutsche) Kommissionspräsidentin genau das Gegenteil tat und Deutschland sofort mit einem Vertragsverletzungsverfahren drohte.

Die Unabhängigkeit der Justiz ist unantastbar

Seltsam ist allerdings, dass in den Reaktionen auf das Karlsruher Urteil auch in Deutschland zumeist das Wichtigste übersehen wird: Die deutschen Richter forderten den EuGH auf, er möge von seiner Machtposition stärker Gebrauch machen und Institutionen wie die Europäische Zentralbank (EZB) besser kontrollieren. So gesehen haben die Deutschen den Gerichtshof in Luxemburg einfach nur an seine Pflichten erinnert. Sie unterstreichen: Die Machtposition des EuGH verpflichtet!

Deutsche Welle Rosalia Romaniec Portrait
Rosalia Romaniec leitet das DW-HauptstadtstudioBild: DW/B. Geilert

Umso tragischer, dass mit dem Urteil ein massiver politischer Kollateralschaden entstanden ist. Empörung und Entsetzen gegenüber dem obersten deutschen Gericht sind trotzdem fehl am Platz. Richter orientieren sich aus guten Gründen nicht an politischen Folgen ihrer Urteile, sondern sie sprechen Recht. Und dieses Recht fordern die Karlsruher jetzt ein. Der Streit ist eigentlich typisch für Europa: Er zeigt die Grenzen der europäischen Integration.

Die EU ist eben kein einheitliches Staatsgebilde, sondern ein Bund aus vielen Einzelstaaten. Die erkennen zwar den EuGH als höchstes rechtsprechendes Organ in Europa an, aber sehen sich zugleich als Hüter der nationalen Verfassungen. Mit dieser Ambivalenz muss man leben, solange es keine Vereinigten Staaten von Europa gibt.

Instrumentalisierung droht

Dass ein nationales Gericht fordert, dass der EuGH in seinen Urteilen die Standards wahrt, die auch in der nationalen Rechtsprechung gelten, entspricht der Erwartung der Bürger an Europa. Wenn Urteile gefällt werden, die diesem Kriterium nicht entsprechen, gibt man den Populisten unnötig Raum.

Jetzt steht die europäische Gerichtsbarkeit vor der nächsten Probe: Gerade erst hat der EuGH Ungarns Umgang mit Asylbewerbern für illegal erklärt. Sollte Budapest dieses Urteil ignorieren wollen, wird es jetzt vermutlich mit dem Zeigefinger auf Karlsruhe als "Vorbild" zeigen. Ganz ungeachtet der Tatsache, dass die Deutschen einen stärkeren und keinen schwächeren EuGH fordern.

Die Europäische Union darf jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie muss ihre nächsten Schritte und Worte gut überlegen. Spätestens jetzt wird jedem klar: Dieser Streit der Juristen geht als Lehrstunde der europäischen Demokratie in die Geschichte ein. Alles andere wäre ein Desaster.