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Kommentar: Das Projekt EU-Verfassung war zu ambitioniert

Bernd Riegert, Brüssel16. Juni 2006

Das Schicksal der EU-Verfassung stand im Mittelpunkt des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel. Bernd Riegert kommentiert.

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Es geht nur langsam voranBild: picture-alliance/ dpa/DW-Grafik

Die Staats- und Regierungschefs gaben sich redlich Mühe, am Ende ihres zweitägigen Gipfels am Freitag (16.6.2006) in Brüssel Optimismus zu verbreiten und Zuversicht auszustrahlen, dass sie die totgesagte Verfassung für die Europäische Union wieder beleben können. Irgendwann nach den Wahlen in den verfassungskritischen Mitgliedsstaaten Niederlande und Frankreich im Mai 2007. Nur wie der Verfassungsvertrag so verändert, ergänzt oder entschlackt werden kann, dass ihn alle, dann mit Bulgarien und Rumänien, 27 Mitgliedsstaaten ratifizieren könnten, blieb das Geheimnis der Gipfelteilnehmer. Das liegt daran, dass die Staatenlenker selbst nicht wissen, wo sie hinsteuern sollen. Die Chefin des größten Mitgliedslandes, Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zur neuen europäischen Lichtgestalt stilisiert wird, will den Text der Verfassung nicht verändern. Das sehen die übrigen 15 Staaten, die den Vertrag bislang ratifiziert haben genauso.

Blair hat kein Interesse mehr

Frankreich möchte nur Teile der Verfassung in Kraft setzen. Luxemburg plädiert für ein Kerneuropa, in dem Staatengruppen in einigen Politikbereichen verstärkt zusammenarbeiten. Der EU-Kommissionspräsident möchte beides: Verfassung irgendwann ratifizieren und vorher die Zusammenarbeit so verstärken, als ob es die Verfassung schon geben würde. Belgien möchte die Vereinigten Staaten von Europa. Der britische Premier Tony Blair interessiert die Verfassung nicht mehr. Er wird aus dem Amt scheiden bevor ihr weiteres Schicksal bestimmt wird.

Die Regierung in Polen hat ebenfalls kein großes Interesse an der Verfassung, denn die Zustimmung der europaskeptischen Polen in einer Volksabstimmung ist höchst fraglich. Zieht man heute nach einem Jahr des Nachdenkens realistisch Bilanz, muss man feststellen: Das Projekt Verfassung war zu ambitioniert. Man sollte es endgültig begraben und auf das Machbare konzentrieren. Ein neuer Vertrag, der die Entscheidungsverfahren in der EU an ihre neue Größe und kommende Aufnahmen vorbereitet, ist nötig. Der wird aber nicht mehr Verfassung heißen, um Angst vor einem EU-Superstaat erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Von gegebenen Zusagen nicht abgerückt

Die Fixierung auf die allumfassende, selig machende Verfassung, das ständige Reden von der Krise ist falsch. Europa wird auch ohne Verfassung in kleinen Schritten weiter vorwärts kommen. Herausforderungen gibt es genug. Sei es die Gestaltung der Globalisierung, die einheitliche Wirtschaftspolitik oder die Erweiterung um sechs Balkanstaaten und möglicherweise die Türkei. Trotz interner Krise hat die EU darauf verzichtet, von gegebenen Zusagen abzurücken.

Nach Bulgarien und Rumänien werden auch die Balkanstaaten aufgenommen werden. Um Bedenken Rechnung zu tragen, könnte der Prozess allerdings verlangsamt werden. Die Aufnahmefähigkeit der Union soll auf Druck Frankreichs, Deutschlands und Österreichs eine größere Rolle spielen als bisher. Diese zweite Seite der Erweiterungsmedaille wird besonders bei der Bewertung der Türkei entscheidend sein. Im Dezember wollen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zu ihrer eigenen Aufnahmefähigkeit ausführlich äußern. Auch dieses Problem wurde erst einmal verschoben.

EU-Kommissionspräsident José Barroso hat ganz Recht, wenn er mahnt, den EU-Bürgern ist egal, ob sie mit oder ohne Verfassung regiert werden, ihnen kommt es auf das Ergebnis an. Die EU muss konkrete Ergebnisse liefern, konkreten Nutzen bringen.

Chance, ein Zeichen zu setzen

Frieden in Europa, Reisefreiheit, freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, eine Gemeinschaftswährung. All diese Leistungen werden inzwischen als selbstverständlich hingenommen. Die EU braucht ein neues Projekt, ein neues Ziel. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung der Europäischen Gemeinschaft im kommenden Frühjahr die Chance, hier ein Zeichen zu setzen. Sie muss als EU-Ratspräsidentin dafür sorgen, dass die Regierungen in den Mitgliedsstaaten den politischen Willen zu einem neuen Gemeinschaftsprojekt entwickeln. Den alten Traum von der europäischen Verfassung, der schon mehrfach platzte, den kann man dann vielleicht noch einmal in zehn oder 15 Jahren träumen.