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Die Rede über Geschichte, die Geschichte machte

Felix Steiner11. Februar 2015

Manchmal reicht eine einzige Tat, um sich einen Ehrenplatz in den Geschichtsbüchern zu sichern. Bei Richard von Weizsäcker war dies seine Rede vom 8. Mai 1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, meint Felix Steiner.

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Deutschland Geschichte Kapitel 4 1979 – 1989 Richard von Weizsäcker Rede im Bundestag
Bild: picture-alliance/dpa

"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung." Der Satz, der heute so selbstverständlich klingt und von mehr als 80 Prozent der Deutschen geteilt wird, war vor 30 Jahren aus dem Mund des Bundespräsidenten eine Schlagzeile, fast eine Sensation. Zumal aus dem Mund eines Präsidenten, der aus dem konservativen Parteienlager stammte. Und der den Zweiten Weltkrieg selbst vom ersten bis zum letzten Tag als Soldat, als mehrfach mit Orden ausgezeichneter Hauptmann der Wehrmacht mitgemacht hatte. Auch und gerade dort, wo der Krieg mit der größten Brutalität geführt wurde: an der "Ostfront", nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.

Der 8. Mai 1945 - das war bis dahin der Tag der "Kapitulation" gewesen, das Ende des Krieges, den wir Deutschen eben "verloren" hatten. Beide Begriffe bestimmten auch in meiner Kindheit der späten 60er und 70er Jahre das innerfamiliäre Erzählen über das, was damals war. Beide Großväter gerieten in den letzten Kriegstagen in Gefangenschaft, der eine blieb es mehr als drei Jahre lang. Ja, sie waren wohl erleichtert, dass der Krieg endlich vorbei war, dass sie das gegenseitige Abschlachten überlebt hatten und es Aussicht gab, zur Familie heimzukehren. Aber "befreit" haben sie sich in diesen Tagen vermutlich genau so wenig gefühlt, wie die Masse der Deutschen.

Wer es wissen wollte, konnte es wissen

Doch der Bundespräsident mutete den Deutschen mit seiner Rede noch mehr zu: "Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten." Damit rührte Richard von Weizsäcker an das große Tabu-Thema der ersten Nachkriegsjahrzehnte: die Schuld, die sich die Deutschen durch zwölf Jahre Nationalsozialismus aufgeladen hatten. "Was habt ihr gewusst?", war die Frage der 68er Generation an ihre Väter und Mütter, die so oft unbeantwortet blieb und deswegen vielfach im radikalen Bruch der Generationen mündete.

"Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen", hatte der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß, wie von Weizsäcker Wehrmachtsoffizier an der Ostfront, in den 1960er Jahren noch postuliert. Die längst überfällige Abkehr vom Wunsch des Verdrängens und Vergessens musste und konnte nur aus dem Lager der Konservativen und Kriegsteilnehmer selbst kommen. Denn natürlich hatten auch schon Andere vor dem Deutschen Bundestag auf die Schuld der Deutschen hingewiesen. Bundespräsident Gustav Heinemann etwa, der sich in der kirchlichen Opposition engagiert und illegale Flugblätter im Keller seines Hauses gedruckt hatte. Oder Willy Brandt, der vor den Nazis ins skandinavische Exil geflohen war und von dort versuchte, Widerstand zu organisieren. Genau hierfür schlug beiden von vielen Zeitgenossen bis weit in die Nachkriegszeit Verachtung entgegen. Und ihre Wirksamkeit blieb auf das eigene politische Lager beschränkt.

Felix Steiner
DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Eine neue historische Identität

Von Weizsäcker ist es hingegen gelungen, mit seiner Rede eine neue kollektive Norm des historischen Erinnerns zu setzen. Nicht erst im unkritischen Abstand von nunmehr 70 Jahren, sondern zu einem Zeitpunkt, als Millionen der damals Beteiligten und Verstrickten - als Täter wie als Opfer - noch lebten. Und er hat, gegen vielfachen Widerstand aus der eigenen Partei, den Deutschen den Auftrag gegeben, die Erinnerung an das damals Geschehene auf Dauer wach zu halten.

Wenn die Deutsche Einheit 1990 in den Nachbarländern, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, nur wenige Ängste und Sorgen auslöste, dann hatte dies auch etwas mit genau dieser neuen historischen Identität der Deutschen zu tun, die Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren postulierte. Die im Ausland neues Vertrauen schaffte. Wenn Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich des diesjährigen Holocaust-Gedenktages sagte, es gebe "keine deutsche Identität ohne Auschwitz" und dies keine kontroversen Debatten mehr auslöste, dann haben die Deutschen ihre Rolle und die Verantwortung für ihre Geschichte angenommen. Beides ist Frucht der großen Rede vom 8. Mai 1985. Richard von Weizsäcker hat sich um Deutschland verdient gemacht!