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Politik

Chaos statt Gerechtigkeit

Thofern Uta 62 Latin Berlin 201503 18
Uta Thofern
26. Dezember 2019

Mehrere Länder Südamerikas haben zwar einen heißen, aber keinen Arabischen Frühling erlebt. Die Folgen allerdings könnten ähnlich sein: Demokratie und Rechtsstaat haben Ansehen verloren, meint Uta Thofern.

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BdTD Bolivien Proteste | Anhängerin von Ex-Präsident Evo Morales
Bild: Getty Images/G. Brito Miserocchi

Ecuador, Chile, Bolivien, zuletzt Kolumbien - die Bilder der vergangenen Wochen glichen sich. Friedliche Proteste, die an ihren Rändern in Vandalismus und Gewalt umschlugen und von Sicherheitskräften zum Teil brutal bekämpft wurden. Proteste, die weitreichende Konsequenzen hatten: in Bolivien den Rücktritt des Staatschefs, in Ecuador ebenso wie in Chile und Kolumbien die Rücknahme von umstrittenen Regelungen oder Reformplänen. Proteste, die diese Länder für immer verändert haben.

Soweit die offensichtlichen Gemeinsamkeiten. Die politische und wirtschaftliche Ausgangssituation in den vier Ländern war zwar unterschiedlich, aber dennoch gibt es auch gemeinsame Ursachen für die Proteste: Die Blindheit der Eliten für offensichtliche Ungerechtigkeiten, die Arroganz der Macht und das Fehlen eines Wirtschaftsmodells, das eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit, Profit und sozialem Ausgleich schafft. Und es gibt ein neues gemeinsames Problem: Ein Konsens über neue Wege scheint in Chile ebenso schwierig wie in Kolumbien, Bolivien ist politisch gespaltener als zuvor und die momentane Ruhe in Ecuador ist trügerisch.

Massenproteste gegen demokratisch gewählte Regierungen

In all diesen Ländern richteten sich - anders als im arabischen Frühling - die Massenproteste nicht gegen Diktatoren, sondern gegen demokratisch gewählte Regierungen. Auch Bolivien, wo sich Evo Morales zunehmend autokratisch an die Macht klammerte, war von einer Diktatur noch weit entfernt. Allerdings gingen die Bolivianer tatsächlich auf die Straße, um ihre Demokratie zu schützen, jedenfalls zu Beginn. Morales´ Rücktritt aber führte zu Protesten seiner Anhänger, beide Seiten haben sich radikalisiert und die Übergangsregierung tut nichts dagegen.

Stattdessen übt sich Übergangspräsidentin Jeanine Añes mit Gesten wie dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum chavistischen Venezuela und der Wiederaufnahme derselben zu Israel in Symbolpolitik, die von den USA bestellt sein könnte. Die Bibel, die sie ostentativ bei ihrem Amtsantritt dabei hatte, war auch für diejenigen indigenen Gruppen, die sich gegen Vorgänger Morales gewendet hatten, ein Zeichen der Ablehnung ihrer Kultur. Die ehemalige Opposition, die bei Neuwahlen die meisten Chancen haben müsste, zersplittert zusehends, die gemäßigten Kräfte verlieren an Zuspruch. Die Polarisierung wächst.

Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich

Auch in Chile und Kolumbien zeichnet sich eher eine Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung als eine Annäherung zwischen den vielen protestierenden Gruppen und den Regierungen ab. Dass die Präsidenten Miguel Juan Sebastián Piñera und Iván Duque nach anfänglicher Sturheit inzwischen auf viele Forderungen der Demonstranten eingegangen sind und sich gesprächsbereit zeigen, verfängt auf der Straße nicht mehr. Nach dem total überzogenen Vorgehen der Sicherheitskräfte auch gegen friedliche Proteste ist das Vertrauen in den Staat endgültig verloren gegangen. Gleichzeitig nutzen Gewalttäter jede neue Demonstration für Plünderungen und Vandalismus, was die Gewaltspirale weiter anheizt und im passiven Teil der Bevölkerung das Gefühl von Unsicherheit und Kontrollverlust befeuert.

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Uta Thofern leitet die Lateinamerika-Programme

In beiden Ländern scheinen Regierung und Protestbewegung auf verschiedenen Planeten zu leben und verschiedene Sprachen zu sprechen. In Kolumbien hat der bewaffnete Konflikt mit der Guerilla jahrzehntelang alle anderen gesellschaftlichen Probleme übertüncht. In Chile haben die erfolgreiche Überwindung der Diktatur und die guten Wirtschaftsdaten die darunter fortbestehende gesellschaftliche Spaltung verdeckt.

Die Wut, die sich jetzt Bahn gebrochen hat, kennt keine Geduld mehr. Was Politiker Verhandlungen nennen oder die Einhaltung von Gesetzeswegen, klingt auf der Straße nach Ausreden. In Chile hat selbst die Aussicht auf ein Verfassungsreferendum den Zorn nicht besänftigen können, einen Ansprechpartner für die Regierung gibt es in der Protestbewegung gar nicht. In Kolumbien scheitern ernsthafte Gespräche schon daran, dass das Streikkomitee einen Alleinvertretungsanspruch erhebt und sich nicht in Gespräche mit anderen gesellschaftlichen Gruppen einreihen will.

Alles, und zwar sofort!

Hinzu kommt, dass die Menschen auf der Straße irgendwie alles wollen, und zwar sofort: Bessere und bezahlbare Bildung, weniger Gewalt gegen Frauen, höhere Renten, weniger Rassismus, eine bessere Gesundheitsversorgung, mehr Schutz für Umwelt- und Sozialaktivisten. Die Liste ist noch länger, nicht für alles ist der Staat unmittelbar zuständig und tatsächlich lassen sich solche Reformen nicht von heute auf morgen umsetzen. Noch nicht einmal in einer Diktatur.

Die Politik hat es bisher nicht geschafft auch nur eine Sprache zu finden, in der sich über Inhalte reden ließe. Doch auch auf Seiten der Protestbewegung erscheint die Bereitschaft zum Kompromiss gering, das "Jetzt sind wir mal dran" und der Rausch des Machtgefühls auf den Straßen verhindern nüchternes Denken. Und natürlich bleibt das Misstrauen gegen einen Staat, der gewalttätig geworden ist. Dennoch wird es ohne Verhandlungen nicht gehen und auch nicht ohne die Einsicht, dass niemand einen Alleinvertretungsanspruch hat. Ob es sich nun um gewählte Politiker oder zornige Bürger handelt - sie alle können nur für einen Teil der Gesellschaft sprechen.

Demokratie ist Kompromiss und Ausgleich

Demokratie braucht Zeit, Demokratie ist die mühselige Suche nach Kompromissen, nach Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen. All das wollen die wütenden Demonstranten anscheinend nicht mehr, sie haben zu lange gewartet und sind von der Demokratie zu oft enttäuscht worden. So verständlich das ist - es fällt schwer sich eine gute Alternative vorzustellen. Wenn alle Regeln außer Kraft gesetzt werden, herrscht zunächst einmal Chaos, zumeist gefolgt vom Recht des Stärkeren. Gerechtigkeit ist das nicht.

Thofern Uta 62 Latin Berlin 201503 18
Uta Thofern Leiterin Lateinamerika-Redaktionen, Schwerpunkt Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte