Schwieriger Verbündeter
7. Oktober 2014Die Milizen des "Islamischen Staates" stehen in der umkämpften syrischen Stadt Kobane unmittelbar an der Grenze zur Türkei. Von der türkischen Seite aus kann man ihre schwarzen Flaggen sehen. In Kobane droht unter den Augen des türkischen Militärs unmittelbar ein Blutbad an kurdischen Zivilisten. Doch die Türkei greift bisher nicht ein. Der Parlamentsbeschluss ist da. Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte das Militär jederzeit in Syrien gegen die Kämpfer des "Islamischen Staates" einsetzen. Aber er zögert. Dabei hat das NATO-Mitglied Türkei nach den USA die umfangreichsten Bodentruppen des Bündnisses. Diese könnten die Luftangriffe der USA ideal ergänzen. Experten sind sich ohnehin einig, dass der Kampf gegen den "Islamischen Staat" ohne Bodentruppen letztlich aussichtlos ist. So kommt der Türkei wahrscheinlich die entscheidende militärische Bedeutung zu, das Morden der fanatischen IS-Milizen zu beenden.
Bisher kein Fall für die NATO
Ein Fall für die NATO ist die Lage bisher nicht. Außer vereinzelten Einschlägen von Mörsergranaten gibt es keinen Angriff der IS auf türkisches Staatsgebiet. Auch die türkische Exklave in Syrien mit dem Mausoleum von Süleyman Schah, in dem die Türken den Großvater des ersten osmanischen Sultans sehen, blieb bisher unversehrt - obwohl der IS das umliegende Gebiet kontrolliert. Ob die NATO-Partner einen Angriff auf die Exklave als Bündnisfall betrachten würden, ist unklar. Bei einem Angriff auf die Türkei selbst könnte die Türkei ihn aber zweifellos ausrufen. Der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat ausdrücklich gesagt, das Bündnis schütze "die Integrität, die Grenzen der Türkei".
Stille Sympathien für den IS?
Doch darum geht es im Moment nicht. Die westlichen NATO-Verbündeten zweifeln dagegen an Erdogans Motiven. US-Vizepräsident Joseph Biden hat die Türkei kritisiert, sie habe, um den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad loszuwerden, auch Dschihadisten unterstützt. Biden hat sich später entschuldigt, und die Türkei hat die Sache für beendet erklärt. Aber der Stellvertreter von Barack Obama hat nur ausgesprochen, was viele im Westen denken: dass die Türkei wenigstens bis zu einem gewissen Grad mit dem IS sympathisiert oder bis vor kurzem sympathisiert hat. Dazu verdichten sich die Hinweise, dass im Gegenzug für die Freilassung türkischer IS-Geiseln Dschihadisten aus türkischen Gefängnissen freikamen, auch solche aus EU-Staaten. Das alles untergräbt das ohnehin angespannte Verhältnis des Westens zur türkischen Regierung.
Ankara erwartet viel
Was ist Erdogans Strategie? Tatsächlich steckt er in einer Zwickmühle. Zieht er Seite an Seite mit den USA in den Kampf gegen IS, muss er islamistische Anschläge im eigenen Land fürchten. Außerdem will er weder Assad noch die Kurden zu stark werden lassen. Man muss bedenken, dass über Jahrzehnte militante Kurden der innere Feind Nummer eins für die Türkei waren. Erdogans ursprüngliches Argument, solange sich türkische Geiseln in der Hand der Islamisten befänden, seien ihm die Hände gebunden, gilt vorläufig nicht mehr. Aber die Türkei stellt Bedingungen für eine Beteiligung am Anti-IS-Kampf: Die Beseitigung von Präsident Assad, des "Satans", wie sich Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ausdrückte, soll Ziel bleiben. Auch soll die US-geführte Koalition eine Pufferzone innerhalb Syriens einrichten. Die Pufferzone soll zum einen die kurdische Zivilbevölkerung schützen - die dann nicht mehr über die Grenze in die Türkei fliehen muss - und sie würde der Türkei militärische Sicherheit bieten. Mit anderen Worten, die Türkei erwartet eine umfassende Sicherheitsstrategie auch für die Zeit nach einem Sieg über den IS. Doch das ist viel verlangt von einer lockeren Koalition, die mit ihrer selbstgestellten Aufgabe überfordert scheint.
Die Türkei mag zum Teil verständliche Gründe für ihr Zögern und Abwägen gehabt haben. Doch die Zeit für strategische Gedankenspiele muss jetzt vorbei sein. Das türkische Militär kann nicht zuschauen, wie vor ihren Augen die Kämpfer der IS die kurdische Zivilbevölkerung abschlachten. Lässt die Türkei das zu, wird die Weltöffentlichkeit sie dafür mitverantwortlich machen.