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Politik

Kitsch? Kunst? Kult? Oder doch Politik?

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
18. Mai 2019

Orthodoxe Rabbiner und Palästina-Aktivisten kritisieren den ESC heftig. Die übergroße Mehrheit will bei dem kultigen Festival einfach nur Spaß haben. Und das sollte auch so bleiben, meint Bernd Riegert aus Tel Aviv.

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ESC 2019 Eurovision Song Contest Roko Kroatien
Der Unschuldsengel (Kroatien) hat es ins Finale geschafft. Doch ganz so unschuldig wird die Pop-Olymipiade nicht wahrgenommen.Bild: picture-alliance/dpa/TASS Foto/V. Prokofyev

Schillernde Figuren trällern ihre Lieder beim Eurovision Song Contest (ESC), der bereits zum dritten Mal in Israel stattfindet. Tausende in Tel Aviv feiern fröhlich tagelang. 180 Millionen Menschen weltweit fiebern am Fernseher mit. Gleichzeitig riegelt die israelische Regierung den Gaza-Streifen ab, hält das Westjordanland besetzt und hat die Golanhöhen annektiert. Hat all das etwas miteinander zu tun?

Die Veranstalter des ESC sagen Nein und ducken sich vor der öffentlichen Debatte weg. Die Sangeskünstler haben Sprechverbot und dürfen sich nicht zum Nahost-Konflikt auf offener Bühne äußern. Der Pop-Ikone Madonna wurde für ihren Pausen-Gig am Samstag ein Maulkorb verpasst. Nur die Band aus Island hielt sich nicht daran und fabulierte vor ihrem Auftritt über den "Apartheidstaat Israel", der die Palästinenser diskriminiere.

Politik schwingt mit

Die Palästinenser nutzen die Aufmerksamkeit, die das Popfestival verschafft, für ihre Zwecke. Der palästinensische Raketenhagel aus dem Gaza-Streifen auf Israel vor zehn Tagen sollte auch die Botschaft transportieren, dass in einem "Unterdrücker"-Staat - wie Kritiker Israel nennen - ein fröhliches Wettsingen fehl am Platze sei. Israel selbst hingegen zelebriert das Gipfeltreffen der Euro-Barden als Beweis dafür, wie weltoffen und tolerant die einzige Demokratie des Nahen Ostens sei.

Riegert Bernd Kommentarbild App
Europakorrespondent (und ESC-Fan) Bernd Riegert ist in Tel Aviv

Der Eurovision Song Contest ist also ganz logisch auch eine politische Veranstaltung; war er übrigens immer schon. Am Anfang ein Symbol für die Einigung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, dann nach dem Mauerfall ein Vehikel für das Zusammenwachsen von Ost und West. Der ESC war seiner Zeit oft voraus, hatte stets mehr Mitglieder als die Europäische Gemeinschaft, schloss lange vor dem Ende des Kalten Krieges bereits das kommunistische Jugoslawien ein. Und auch Israel war schon vor 40 Jahren dabei.

Mitglieder der ausrichtenden "European Broadcasting Union" sind auch nordafrikanische und arabische Staaten, haben aber - außer Marokko - wegen ihrer Ablehnung des Mitglieds Israel nie am Wettbewerb teilgenommen. Schon in den 1960er-Jahren gab es Protest beim ESC - damals gegen Spaniens Militärdiktatur. Die Konflikte Russlands mit Georgien und der Ukraine, die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan: All das hat den eigentlich naiven ESC und seine quietschbunte Fassade immer wieder politisiert.

Ohne Wirkung

Boykottaufrufe gegen Israel und den ESC 2019 blieben erfolglos. Alle 41 angemeldeten Künstlerinnen und Künstler sind erschienen, um ihr Land zu vertreten. Es kamen weniger zusätzliche Touristen und Fans als vorgesagt, aber das liegt weniger an Politik oder Sicherheitslage, sondern schlicht an absurd hohen Eintrittspreisen, Hotel- und Transportkosten rund um die ESC-Sause.

In Israel ist nichts unpolitisch. Alles und jedes wird mit dem Palästina-Konflikt oder Vorwürfen von Antisemitismus vermengt. Auf eine groteske Spitze hat diese Debatte die pro-palästinensische Boykott-Kampagne "BDS" (Boykott, Desinvestionen, Sanktionen) getrieben. Sie behauptet allen Ernstes, die israelische Regierung bemäntele ihre "unrechtmäßige" Politik mit der Regenbogenfahne der Lesben, Schwulen, Transgender und Intersexuellen, die ein besonderes Faible für den Eurovision Song Contest als Symbol  entwickelt haben. Die LGBTQI-Gemeinschaft, die den Contest für sich vereinnahmt, lasse sich für ein "pink washing" (also ein Umfärben in Rosa) der Siedlungspolitik vor den Karren der Regierung Netanjahu spannen, behauptet die BDS-Truppe.

In der Tat können Lesben und Schwule in Israel fast unbehelligt leben. Übrigens feiern auch palästinensische Homosexuelle in Tel Aviv mit. In der toleranten israelischen Gesellschaft können gleichgeschlechtliche Paare heiraten und auch Kinder adoptieren. Im Gazastreifen und im Westjordanland hingegen wird Homosexualität von der zutiefst repressiven Gesellschaft geächtet. Die Boykott-Aktivisten selbst argumentieren homophob, wenn sie Israels Palästinenserpolitik mit der Gleichberechtigung der LGBTQI-Gemeinde in einen Topf werfen.

Nicht singen ist auch keine Lösung

Mit Abscheu abzulehnen sind die antisemitischen Anwandlungen der BDS-Palästina-Aktivisten. In ihrem Protestlogo zeigen sie im Eurovision-Schriftzug ein zerbrochenes Herz, das in zwei SS-Runen zerfällt. Damit sollen wohl Parallelen zwischen dem Nazi-Terror und dem Sangeswettbewerb im jüdischen Staat gezogen werden. Da ist es richtig, dass der Bundestag als erstes Parlament in Europa, die Aktivitäten der Boykott-Aktivisten kritisch bewertet und ihnen Unterstützung entziehen will.

Natürlich kann man Kritik an der Politik der israelischen Regierung üben. Sie darf aber nicht in antijüdische Propaganda abgleiten.

Wenn man den Maßstab der Kritiker am ESC 2019 anlegt, dann hätte es auch 2012 keinen Wettbewerb in Aserbaidschan oder 2009 in Russland geben dürfen. In diesen Staaten steht es mit den Menschenrechten erwiesenermaßen nicht zum Besten. Wenn man in Tel Aviv nicht singen darf, dann darf man in Katar auch keinen WM-Fußball spielen oder in China Olympische Winterspiele 2022 abhalten. An diesen Ländern gibt es mindestens so viel zu bemängeln, wie an Israel.

Boykott und Ausgrenzung? Nein. Diskussion und Kritik? Ja. Das könnte der politische Geist des ESC sein. Zu viel sollte man aber nicht erwarten. Denn in erster Linie ist der ESC eine große Party.

Begeisterung und Bedenken vor ESC-Finale in Tel Aviv

 

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union