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Europa darf keine Festung sein

1. September 2015

Hunderttausende Menschen fliehen vor Krieg, Verfolgung und Armut in Richtung Europa. Nun hat auch Ungarn seine Grenze zu Serbien mit einem Zaun aus Stacheldraht abgeriegelt. Das ist der falsche Weg, meint Zoran Arbutina.

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Bildergalerie Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze
Bild: Reuters/B. Szabo

Alle Europäer kennen das Erbe des Mittelalters überall auf dem Kontinent: Burgen, möglichst unerreichbar auf hohen Felsen oder durch Gräben gesichert. Städte mit dicken Mauern und engen Toren. Unsere Vorfahren wollten sich schützen vor Eindringlingen, der Gefahr begegnen, überfallen zu werden und etwas weggenommen zu bekommen. Torwächter entschieden, wer hineinkam und wer nicht.

Heute haben Europas Burgen keine Funktion mehr. Und seine Städte sind längst weit über ihre alten Mauern hinaus gewachsen. Dadurch haben sie sich verändert, aber sie haben sich zugleich auch entwickelt. Das Neue und der freie Austausch mit denen, die früher nicht hinein durften, hat sie bereichert. Die Festungstädte, die ihre Mauern nicht niedergerissen haben, sind inzwischen bedeutungslos. Nur noch Touristenattraktionen - schön anzuschauen, aber keine blühenden Metropolen mehr.

Europas Selbstverständnis

Auch das heutige Europa steht vor Entscheidungen: Tausende Flüchtlinge vor den Toren, und noch mehr wollen kommen - was tun? Die Mauer und Zäune noch höher ziehen, so wie jetzt in Ungarn? Noch mehr Polizei und Soldaten an die Grenzen schicken? Noch mehr Beamte einstellen, um Eindringlinge schneller abzuschieben? Wollen wir unsere Kräfte allein darauf konzentrieren, uns zu wehren?

Oder sollten wir Energie, Geld und politischen Willen nicht eher in Maßnahmen stecken, die eine geordnete Aufnahme, die bestmögliche Integration und letzten Endes die Einbürgerung der Flüchtlinge ermöglichen? Wollen wir nur konservieren oder nach vorne denken? Wollen wir uns der Vergangenheit oder der Zukunft zuwenden? Das sind die Fragen, vor denen Deutschland und Europa heute stehen.

Kommentarfoto Zoran Arbutina PROVISORISCH
DW-Redakteur Zoran Arbutina

Trotz aller Krisen und Unterschiede innerhalb der EU bleibt sie für Außenstehende ein Ort von Wohlstand, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit. Ein Ort, an dem die Menschenrechte geachtet werden. Deswegen übt die EU weiterhin eine magische Anziehungskraft aus - nicht nur auf Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten, sondern auch für Menschen aus Afrika und dem Westbalkan.

Was noch wichtiger ist: All diese Errungenschaften zählen inzwischen zum europäischen Selbstverständnis. Was einst als Wirtschaftsprojekt begann, ist längst viel mehr geworden: Es ist eine Wertegemeinschaft entstanden. Deswegen darf sich Europa heute nicht durch die Höhe der Zäune oder die Effektivität seiner Polizeibeamten definieren, sondern nur durch seine Offenheit, seine Toleranz und Freiheit.

Europa am Scheideweg

Durch eine Abschottung würde Europa seine Grundsätze verraten und sich seiner Zukunft berauben. Ja, die Neuankömmlinge werden Europa verändern, das liegt in der Natur der Sache: Doch liegt es an Europa zu entscheiden, in welche Richtung es sich ändert. Denn auch ein abgeschottetes Europas wird sich zwangsläufig wandeln. Wenn aus dem Haus Europa eine Festung Europa wird, dann hat das Folgen nicht nur für die, die hineindrängen - auch die Europäer selbst werden zu Gefangenen ihrer eigenen Ängste. Wer heute den Flüchtlingen den Eintritt in die Festung verwehrt, läuft Gefahr, morgen nach Fremden innerhalb der Festung zu suchen. Zahlreiche Rechtsextreme, Chauvinisten und Fremdenhasser in ganz Europa warten nur darauf.

Stattdessen gilt es, die Herausforderung anzunehmen, die die große Zahl der Flüchtlinge darstellt. Darin das Potenzial für die Zukunft der eigenen Gesellschaft zu erkennen. Zahlreiche Graswurzelinitiativen zur Unterstützung der Flüchtlinge in Deutschland zeigen, wie das geht. In den Kommunen entstehen heute vielerorts neue Formen der Nachbarschaftshilfe für die Neuankömmlinge. Eine ernstzunehmende und ehrliche Einwanderungspolitik Deutschlands und Europas wäre die Entsprechung auf höherer Ebene. Das wäre gut für die Einwanderer und gut für Europa. Alle gemeinsam könnten dabei gewinnen.