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Europa ist lädiert

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
24. September 2015

Der Sondergipfel der EU zur Flüchtlingskrise brachte keine Lösung für die dringendsten Probleme, nur ein paar mehrheitsfähige Floskeln und Versprechen. Bernd Riegert meint: Mehr war wohl nicht drin.

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Europa auf dem Stier / Brüssel / Skulptur
Bild: DW/Bernd Riegert

Die EU hat tiefe Risse. Ihr Zusammenhalt bröckelt. Sie wirkt chaotisch, lädiert. So ist die dynamische, aber doch ramponiert wirkende Skulptur der "Europa auf dem Stier" vor dem Ratsgebäude in Brüssel ein unfreiwilliges Sinnbild.

Der unerwartete Andrang Hunderttausender, die die Grenzen überwinden und trotz hektischer Grenzkontrollen und Grenzschließungen unaufhaltsam scheinen - er hat die EU in eine existenzielle Krise gestürzt. Die oft beschworenen Werte Rechtsstaatlichkeit, Menschlichkeit und Solidarität bröckeln schneller, als viele erwartet haben.

In der Sondersitzung in Brüssel haben sich die Staats- und Regierungschefs offenbar zusammengerissen und einander keine Vorwürfe an den Kopf geworfen. Der Streit wurde sachlich ausgetragen - gelöst wird die Krise so aber nicht. Das musste auch Ratspräsident Donald Tusk einräumen.

Südliche Staaten beschweren sich, dass die nördlichen sie als "Frontstaaten" alleine lassen. Die osteuropäischen Staaten fühlen sich von der großen Mehrheit überrumpelt, weil sie gegen ihren Willen umgesiedelte Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufnehmen sollen. Ungarn fühlt sich betrogen von Griechenland, das Flüchtlinge einfach weiterschiebt. Die als zu großzügig empfundene "Alle-sind-willkommen-Haltung" der Bundeskanzlerin Angela Merkel wird als Einladung an immer mehr Flüchtlinge scharf kritisiert. Nicht nur von Ungarn, auch von EU-Ratspräsident Donald Tusk.

Keine wirkliche Lösung

Alle Staaten versuchen, die Flüchtlinge weiterzureichen - bis sie irgendwann in Deutschland, Österreich, Schweden ankommen, oder bis vor kurzem auch in Ungarn. Europäisches Recht wird mittlerweile von vielen Staaten nicht mehr beachtet. Die Dublin-Regel über die Zuständigkeit für Asylbewerber, die Verfahrensregeln für Asyl, die Regeln für die kontrollfreien Grenzen: Alles und alle werden sie fast beliebig gebeugt und gebrochen. Das geht so nicht weiter.

Riegert Bernd Kommentarbild App
DW-Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Der ungarische Premier Viktor Orban, der sich durch fremdenfeindlichen Populismus selbst disqualifiziert, hat einen Punkt, in dem er durchaus Recht hat: Die Sicherung der EU-Außengrenzen ist die Voraussetzung dafür, dass im Innern Reisefreiheit herrschen kann. Da die Außengrenzen porös sind, bricht das Schengen-System im Innern nach und nach zusammen. Orban argumentiert, mit seinen Zäunen würde er nur die Grenzen der gesamten EU schützen und damit den anderen Mitgliedsstaaten einen Dienst erweisen. Da hat er leider nicht ganz unrecht.

Auch Griechenland, Bulgarien und Spanien haben an ihren Außengrenzen teilweise Zäune errichtet, die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit überwacht werden. Orban übertreibt es aus nationalistischer Motivation allerdings. Er lässt die Menschenrechte von Flüchtlingen an seiner Grenze nicht gelten. Aber die Menschenrechte der Flüchtlinge beachten auch andere Regierungen nicht. Griechenland kümmert sich nicht um die Flüchtlinge. Die Versorgung und die Unterbringung ist schlichtweg ein himmelschreiendes Unrecht, weil gar nicht vorhanden.

Die wilden Lager in Kroatien sind genauso schlimm. Die Zustände in Calais oder in Brüssel oder in anderen wilden Lagern anderswo in der EU sind nicht viel besser. Es nützt also überhaupt nichts, mit dem Finger auf andere zu zeigen und sich gegenseitig Vorwürfe zu machen.

Hotspots sind Luftschlösser

Der Sondergipfel hat vielleicht die Atmosphäre entgiftet - den Flüchtlingen hilft das allerdings herzlich wenig. Die Ankündigung ist schlicht abenteuerlich, nun könnten bis Ende November riesige Aufnahmezentren in Griechenland und Italien hochgezogen werden, um die Einreise der Flüchtlinge zu steuern. Das würde voraussetzen, dass die Außengrenzen so abgeriegelt werden, dass eine Einreise nur noch über diese "Hotspots" möglich ist. Das erfordert einen gewaltigen Aufwand und einen europäischen Grenzschutz. Den aufzubauen und die Mitgliedsstaaten davon zu überzeugen, Souveränität über ihre Grenzen aufzugeben, dürfte Jahre dauern - wenn es überhaupt möglich ist.

Die Fluchtursachen zu bekämpfen, also die kriegerischen Auseinandersetzungen im nahöstlichen Krisengürtel oder die Armut in Afrika - eine tolle Idee. Davon fabulieren EU-Politiker schon seit Jahren, ohne erkennbaren Erfolg.

Wenigstens finanzielle Hilfen

Bleibt der Beschluss, die Flüchtlingsagenturen der Vereinten Nationen und die Staaten der Region wenigstens mit so viel Geld auszustatten, dass die Millionen Flüchtlinge in der Türkei, in Jordanien, im Libanon und im Irak nicht hungern müssen. Diese Hilfen sind eigentlich selbstverständlich. Skandalös ist, dass die EU erst jetzt auf die dramatischen Appelle der UN reagiert. Viel zu spät, aber immerhin.

Eine wirkliche Lösung für die Flüchtlingskrise ist nicht in Sicht. Wir schaffen das, hat die Bundeskanzlerin auch in Brüssel wieder frohlockt. Nur wie, das sagt sie leider nicht.

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Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union