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Politik

Handels- und handlungsunfähiges Europa

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
24. Oktober 2016

Als hätte die EU nicht schon genug Krisen, wird sie jetzt auch noch von einer Region vorgeführt, die das CETA-Abkommen mit Kanada vorerst zum Scheitern bringt. Doch das Problem hat viele Ursachen, meint Bernd Riegert.

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Berlin  Protest gegen Handelsabkommen Ceta Symbolbild
Demonstrationen gegen die Freihandelsabkommen der EU gab es schon an vielen Orten - hier in BerlinBild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Mit dem Finger auf die widerborstige Wallonie zu zeigen und allein den hinterwälderischen Handelsgegnern die Schuld am CETA-Drama zu geben, reicht nicht aus, um zu verstehen, was da vor sich geht. Auch die EU-Kommission, die EU-Mitgliedsstaaten, der Förderalstaat Belgien und selbst Kanada haben Anteil an dem Desaster.

Bereits vor einem Jahr hatten die Wallonen, die sich von internationalen Konzernen abgehängt fühlen, beim belgischen Staat und bei der EU-Kommission, die die Verhandlungen mit Kanada führt, Bedenken und Wünsche angemeldet. Im April dann stimmte das wallonische Parlament in einer Resolution gegen CETA. Spätestens da hätten der belgische Premier und die Kommission aufwachen müssen, um dem Widerstand frühzeitig zu begegnen. Der Termin für den EU-Kanada-Gipfel stand längst fest. Trotzdem ließ man alles laufen.

Nicht nur die Wallonen haben Sonderwünsche

Einige Tage vor der geplanten Unterzeichnung zeigte man sich verwundert, dass die Wallonen tatsächlich stur blieben. Sie fühlten sich ermutigt von anderen Mitgliedsstaaten, die ebenfalls Sonderwünsche durchsetzten oder mit Erpressung drohten: Rumänien und Bulgarien haben das Visa-freie Reisen für ihre Bürger in das Verhandlungsgebräu gerührt. Die Deutschen setzten in letzter Minute drei Erklärungen durch, die ihnen und auch allen anderen Vertragsparteien ermöglichen, CETA wieder zu kippen, sollten deutsche Gerichte ein Haar in der Suppe finden. Die Sozialdemokraten entdeckten CETA, TTIP und den globalisierten Handel als Wahlkampfthema und ermutigten die befreundete sozialistische Regierung in der Wallonie dadurch, ebenfalls ihr Glück zu wagen. Der bayrische Regionalfürst, Regierungschef Horst Seehofer von der CSU, befand, es sei nur recht und billig, wenn möglichst viele Parlamente in den komplizierten CETA-Verhandlungen mitmischen könnten.

Riegert Bernd Kommentarbild App
Bernd Riegert ist Korrespondent im DW-Studio Brüssel

Hinzu kommt der für Außenstehende seltsam anmutende Staatsaufbau von Belgien, der den fünf Regional- und Sprachgruppen-Parlamenten ungewöhnliche Rechte beim Abschluss von internationalen Verträgen einräumt. Das konnte aber keine Überraschung für den belgischen Ministerpräsidenten und die ausgerechnet in Brüssel residierende EU-Kommission sein. Die Staatsreformen der vergangenen Jahrzehnte und die überaus komplexen Strukturen des föderalen Belgien waren allen bekannt, die es wissen wollten. Nebenbei bemerkt: Die deutschsprachige Minderheit in Belgien, 70.000 Menschen in Ostbelgien, haben CETA auch noch nicht zugestimmt, deren Ministerpräsident Oliver Paasch versteckt sich hinter der Wallonie. Vielleicht hat ja auch die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG), wie der zwergenhafte Teil-Staat heißt, noch eine Rechnung mit der zentralen Regierung in Brüssel offen? Wen könnte das wundern, nachdem nun in letzter Minute offenbar auch noch die Region Brüssel ein weiteres Veto eingelegt hat?

Auch die Kanadier haben Fehler gemacht: Sie haben bei ihrer Verhandlungsführung zu sehr auf die EU-Kommission gesetzt und die Einzelinteressen der 28 Mitgliedsstaaten unterschätzt. Wenn man mit der EU verhandelt, schließt man eigentlich immer noch 28 einzelne Verträge, nicht einen einzigen mit der ganzen EU, räumen kanadische Experten ein. Die Kommission hat rechtlich zwar das alleinige Verhandlungsmandat, aber so richtig ernst nehmen das die Mitgliedsstaaten offenbar nicht.

Eine durch Größe gelähmte EU

Das CETA-Drama zeigt, wo die Europäische Union an ihre Grenzen stößt. Mit der erforderlichen Einstimmigkeit ist sie unbeweglich und leicht zu erpressen. Sie braucht für künftige Verhandlungen, etwa für Abkommen mit den USA (TTIP) oder Japan eine bessere Strategie. Die Mitgliedsstaaten - und auch die Regionen - müssen, da wo es nötig ist, früher einbezogen werden. Das ist mühselig, aber wohl unumgänglich. Nach außen und ebenso nach innen erscheint die EU dysfunktional, wieder einmal. Selbst wohlmeinende EU-Bürger werden jetzt fragen, wozu die Gemeinschaft überhaupt noch gut ist, wenn sie nicht einmal auf dem Feld ihrer Kernkompetenz - bei Handel und Binnenmarkt - liefern kann? Erstickt sie an sich selbst?

Klar, die Verschiebung der CETA-Unterzeichnung ist peinlich. Aber sie ist nicht der Untergang der Welt oder das Ende aller Handelsverträge. Schließlich haben beide Seiten übergeordnete wirtschaftliche Interessen an diesen Abkommen. Noch sind wir ja nur in der Unterzeichnungsphase. Die eigentliche Herausforderung, die Ratifzierzung von CETA durch das Europäische Parlament, 28 nationale Parlamente und eine Reihe von regionalen Parlamenten (unter anderem in der Wallonie), kommt ja erst noch. Da hat dann zum Beispiel auch das Saarland oder Sachsen noch einmal ein Mitspracherecht. Denn über den Bundesrat sind in Deutschland auch die Bundesländer an der Ratifizierung beteiligt.

CETA zeigt einen Trend

Blickt man zurück, zeigt sich, dass die Wallonen vielleicht nur das offen ausdrücken, was viele Menschen in der EU insgeheim denken: Es ist ein Unbehagen gegenüber den Folgen des globalen Handels und Wirtschaftens zu spüren. Einigeln und Re-Nationalisierung liegen im Trend. Der Austritt Großbritanniens aus der EU ist Ausdruck dieser düsteren Stimmung. Auch in Deutschland machen Populisten von links und rechts Front gegen Freihandel und die EU. Die Volksabstimmung zum EU-Ukraine-Abkommen in den Niederlanden, der Erfolg der Nationalisten bei den Präsidentenwahlen in Österreich, das Nein der Ungarn zu Flüchtlingen sind weitere Symptome der Vertrauenskrise.

Und die nächste Abstimmung, der nächste mögliche Schlag in die Magengrube steht bevor: In Italien stellt sich Premier Renzi Anfang Dezember einem Referendum, das von seinen Gegnern auch zu einem Referendum über die EU stilisiert wird, wenngleich das nicht auf dem Stimmzettel steht. Denn eigentlich geht es "nur" um eine Verfassungsreform.

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Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union