Jetzt erst recht
27. September 2014In Schottland bleibt alles beim Alten und doch wird nichts mehr sein, wie es war. Die Autonomieanhänger haben die Schlacht zwar verloren, aber erreicht, dass London Schottland weitreichende Befugnisse einräumt - ähnlich denen, die Katalonien schon seit Jahren genießt. Tatsächlich ist das Ausmaß an Selbstverwaltung in der autonomen spanischen Provinz viel größer als in Schottland: Katalonien hat seine eigene Polizei, bestimmt in Bildungs- und Gesundheitsfragen und ist die Region, die am meisten staatliche Mittel erhält, dank eines 2009 ausgehandelten Finanzierungsmodells.
Dennoch: Für diejenigen, die die Fahne des katalanischen Separatismus schwenken, ist all dies nicht genug. Katalonien sei kein Teil Spaniens und es nie gewesen, sagen sie und verweisen auf die Andersartigkeit ihrer Sprache und Kultur und auf eine lange Geschichte der Unterdrückung, die schon seit drei Jahrhunderten die Beziehungen zu Spanien präge. Dieses ideologische Denkschema schürt die Emotionen der Katalanen, von denen viele heute mehr als je zuvor bereit sind, sich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang einzulassen.
Die Stunde der Richter
In Schottland hat der gesunde Menschenverstand über die Gefühle gesiegt. Doch Katalonien ist nicht Schottland, wenn auch viele sich bemühen, Lehren aus der dortigen Abstimmung zu ziehen. Während das schottische Referendum im Einvernehmen zwischen Edinburgh und London abgehalten wurde, sieht die spanische Verfassung die Möglichkeit einer Abstimmung über die katalanische Unabhängigkeit nicht vor. Es ist hauptsächlich dieser Trumpf, den die spanische Regierung unter Mariano Rajoy zugunsten der nationalen Einheit ausspielt und der ihre Unbeweglichkeit in dieser Frage rechtfertigen soll.
Jetzt, da der katalanische Regierungschef Artur Mas das Referendum beschlossen hat - mit Rückendeckung des katalanischen Parlaments, das kürzlich das sogenannte "Abstimmungsgesetz" verabschiedet hatte - schlägt die Stunde der Richter. Rajoy wird Beschwerde gegen das Gesetz einlegen, und dann hat das Verfassungsgericht das Wort - wenn auch nicht das letzte.
Mas ist kein Narr
Sollten die Richter die Regelung für verfassungswidrig befinden, könnte Mas sich zu einem Schritt veranlasst sehen, der in der jüngeren Geschichte Spaniens ohne Beispiel ist: der Aufruf zu zivilem Ungehorsam und das Abhalten des Referendums in der Illegalität. In letzter Konsequenz könnte die katalanische Regierung ihre eigene Polizei zum Schutz des Referendums aufbieten - gegen die Sicherheitskräfte des spanischen Staates.
Doch bevor eine solche kaum vorstellbare Eskalation eintritt, könnte Mas seinen wohl letzten Joker aus dem Ärmel ziehen: vorgezogene Wahlen in Katalonien! Neuwahlen könnten die Kräfte für die Unabhängigkeit stärken und Katalonien in eine bessere Verhandlungsposition bringen. Doch zuvor will Mas offenbar noch einmal alle seine Folterwerkzeuge zeigen, denn er hat mit Rajoy noch eine Rechnung offen.
Der Fiskalpakt als Ausweg
Vor zwei Jahren hätte der spanische Regierungschef Gelegenheit gehabt, den Autonomiebestrebungen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise bat die katalanische Regierung um Gespräche über einen neuen Fiskalpakt, der Katalonien die Hoheit über die Steuerverwaltung verleihen sollte. Rajoys Absage hätte deutlicher nicht sein können. Mas sah sich gezwungen den Plan eines Fiskalpakts zu begraben - nur um bald darauf den Prozess einer Abspaltung von Spanien voranzutreiben.
Zweifellos erfordert die Staatskrise, die Katalonien erlebt, eine deutliche Antwort Rajoys. Die sozialistische Opposition fordert von ihm Mut und Führungsstärke. Vor allem jedoch sollte er nicht in seiner Erstarrung verharren. Während der 9. November näher rückt, sieht Rajoy bisher nur eine Alternative: "Verfassung oder Chaos". Doch es gibt die Möglichkeit, ein Abkommen auszuhandeln, das Katalonien die steuerliche Selbstverwaltung erlaubt, ohne dass dafür die Verfassung umgeschrieben werden müsste. Eben dies schlagen katalanische Unternehmer vor, die die wirtschaftlichen Folgen einer Trennung von Spanien und eines Austritts aus der Europäischen Union fürchten.
Die Konsequenzen einer Abspaltung wären unabsehbar - nicht nur für Katalonien und Spanien, sondern auch für die Europäische Union. Was in Schottland nicht eingetreten ist, könnte in Katalonien Wirklichkeit werden und dann in anderen Regionen. Doch das Letzte, was ein von der jüngsten Wirtschaftskrise noch gebeuteltes und vielleicht schon von einer neuen Rezession bedrohtes Europa jetzt gebrauchen kann, ist die Zersplitterung seines Territoriums!