Es ist die Geschichte einer langandauernden Annäherung: In den 1950er und -60er Jahren galt Jürgen Habermas als Marxist. Seine Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit" liest sich als Fundamentalkritik an der Konzentration von Kapital und Macht. In der jungen Bundesrepublik freut man sich dagegen an den Folgen des Wirtschaftswunders. Dass in vielen Schlüsselpositionen noch altgediente Nationalsozialisten saßen, wie etwa der Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze Hans Globke im Bundeskanzleramt, wurde gerne totgeschwiegen.
Der Umgang mit der NS-Zeit wurde erst durch die 1968er-Bewegung lautstark thematisiert, mit der Habermas allerdings ebenfalls fremdelte. 1986 wandte er sich im sogenannten Historikerstreit vehement gegen akademische Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust zu leugnen. Dabei ging es auch um die Frage von Schuld und Verantwortung im Umgang mit der deutschen Geschichte.
Mit dieser grundsätzlichen Frage hatte sich ein Jahr zuvor auch der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker befasst. In seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs nannte Weizsäcker den 8. Mai einen Tag der Befreiung: "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Heute herrscht weitgehend Konsens über diese Aussage, damals erregte sie zum Teil heftige Kritik. Wie konnte ein Bundespräsident - ein konservativer zumal - den Tag der demütigenden Kapitulation als Befreiung würdigen? Wo doch mit der Kapitulation die Teilung Deutschlands eingeleitet wurde.
Der Lackmustest für die Vaterlandsliebe
Der Umgang mit der Vergangenheit galt damals als Lackmustest für den Umgang mit dem eigenen Land: Wer Deutschland liebte, sollte bitteschön nicht zu hart mit der eigenen Geschichte ins Gericht gehen. Wer dies aber tat, hatte Schwierigkeiten, was patriotische Gefühle angeht - die waren höchstens erlaubt, wenn die Fußballnationalmannschaft spielte. Diese Haltung brachte der Vorvorgänger Weizsäckers, Gustav Heinemann auf den Punkt, der einmal sagte: "Ach was, ich liebe keine Staaten. Ich liebe meine Frau!"
Es war Jürgen Habermas, der es schaffte, diese Ambivalenz aufzulösen und zwar mit seinem Konzept eines Verfassungspatriotismus: Die Liebe gilt nicht mehr einem Vaterland, das auf den Grundlagen von Ethnie und Territorium, (oder in der NS-Terminologie: Blut und Boden) existiert, sondern gemeinsamen politischen Werten wie Demokratie und Meinungsfreiheit. Eine Nation wie Deutschland ist danach kein politischer Selbstzweck, sondern bildet lediglich den Bezugsrahmen seiner Bürgerinnen und Bürger. Das schließt die Annahme und Rückgabe der Staatsbürgerschaft ein.
Ein solcher Verfassungspatriotismus ist allerdings nur dort möglich, wo ein freier Diskurs zur politischen Willensbildung beiträgt. Wo es eine Debatten- und Streitkultur gibt. Und wo die verfassungsmäßigen Grundlagen dieser Republik respektiert werden. Auch das sind Dinge, die Habermas immer wieder angemahnt hat. Und im politischen Betrieb weitgehend anerkannt sind.
Filterblasen und identitäres Denken als Bedrohung
Dennoch sind beide Konzepte, der Diskurs und der Verfassungspatriotismus derzeit bedroht - und zwar von zwei Seiten: Wenn sich immer mehr Menschen nur noch über soziale Netzwerke informieren, in denen sie in ihrer eigenen Filterblase gefangen bleiben, dann ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung kaum noch möglich. Wer die Welt nur noch mittels seiner Facebook-Timeline wahrnimmt, dem entgeht das Ganze. Und wir sehen derzeit, wie die Aufsplitterung der Sichtweisen einher geht mit der Zunahme von Hass und Wut.
Die zweite Bedrohung kommt von der politischen Rechten: Dort gewinnt identitäres Gedankengut immer mehr an Bedeutung, das von einer biologisch begründeten Einheitlichkeit eines Volks ausgeht, also von Kriterien, die wir - auch durch Habermas' Wirken - längst für überwunden glaubten.
Zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas sollten wir uns deshalb zwei Dinge bewusst machen: Erstens: Der Philosoph und Soziologe hat die bundesrepublikanische Geschichte und unser Verständnis von einer Bundes-Republik maßgeblich mitgeprägt. Und zweitens: Die freiheitliche Grundordnung dieser Republik ist nicht selbstverständlich, sondern muss tagtäglich verteidigt werden.